3. Oktober 2022

ERP-Booster oder Vermeidungsstrategie?

Vielen Unternehmen aus allen Branchen wurde im ersten Lockdown 2020 schmerzlich bewusst, dass sie einige Entwicklungen rund um ihre Soft- und Hardware versäumt haben und mangelnde Investitionen in die IT-Systeminfrastruktur große Auswirkungen auf den laufenden Betrieb haben. So reichen die Berichte von Entscheidern in Unternehmen von:

  • größeren technischen Schwierigkeiten, die Tätigkeiten der Mitarbeiter in das Homeoffice zu verlagern,
  • über ERP-Systeme aus den 90ern, die unter exponentiell gestiegenen Auftragslasten aus dem E-Commerce-Geschäft eingebrochen sind,
  • bis hin zu starken Disruptionen der Lieferketten, Produktionsstillständen oder Lieferstopps.

Objektiv ist festzustellen, dass die deutsche bzw. die weltweite Wirtschaft mit ihren globalen Lieferketten auf ein Ereignis wie die Covid-19-Krise in keiner Weise vorbereitet war. Leider sind die Folgen der beiden genannten Krisen in jüngerer Vergangenheit immer noch zu spüren.

Die teilweise schmerzliche Erfahrung, dass die Prozesse und IT-Systeme den neuen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind, hat aber auch etwas Gutes. Der positive Aspekt an der Pandemie ist, dass Unternehmen, die es in der Vergangenheit versäumt haben in die IT zu investieren, sehr schnell agiert und das Ruder umgelegt haben. Analog dazu hat die Forschung schnell reagiert und die Bevölkerung neu entwickelte Produkte auf dem medizinischen Markt gut angenommen.

„die Pandemie hat ERP-Defizite aufgedeckt“

Dank der vorhandenen IT-Expertenstrukturen in den Unternehmen in Deutschland wurden in kürzester Zeit die Möglichkeiten für ein mobiles Office geschaffen, um einen Remote-Zugriff auf die betrieblichen Systeme sicherzustellen [1]. Zwar wurden in einigen Unternehmen Performanceprobleme nicht gänzlich beseitigt, jedoch wurde der Remote-Zugriff technisch eingerichtet und damit die Betriebsbereitschaft von Wirtschaftsunternehmen wiederhergestellt. Das akuteste Problem war damit für die meisten Unternehmen gelöst, doch die Pandemie hat auch zahlreiche Schwachstellen sowohl hinsichtlich der Datensicherheit, als auch in Hinblick auf Funktionen bei vorhandenen ERP-Systemen aufgedeckt.

Einige klein- und mittelständische Großhändler, Industriebetriebe und Anlagenbauer haben erkannt, dass sich die Zurückhaltung vor IT-Investitionen negativ auswirken kann, weil die IT mittlerweile ein wesentliches Herzstück eines Unternehmens darstellt. Die Pandemie hat in der Industrie und im Handel zu der Erkenntnis geführt, dass in die Jahre gekommene Warenwirtschafts- oder ERP-Systeme den neuen Anforderungen teilweise nur noch unzureichend gerecht werden.

 „Unternehmen brauchen höhere Resilienz“

Die Pandemie hat sowohl national als auch EU-weit ein enormes Forschungsvolumen freigesetzt. Projekte wie etwa CO VERSATILE [2] zur Steigerung der Resilienz für Lieferketten oder das Forschungsprojekt ResKriVer [3], das auf die Entwicklung einer Datenplattform für das Gesundheits- und Rettungswesen sowie für Unternehmen zur Verbesserung des Risikomanagements in Krisensituationen abzielt, tragen zur Erhöhung der Versorgungssicherheit von Supply Chains bei. CO-VERSATILE ist eines von vier geförderten Forschungsvorhaben im Zuge des EU-initiierten Covid-19-Förderprogramms für einen schnellen Aufbau der Fertigung für lebenswichtige medizinische Produkte und Geräte. An diesem Forschungsprojekt beteiligen sich insgesamt 21 Partner aus acht europäischen Ländern. Das Konsortium des Forschungsprojektes ResKriVer besteht aus insgesamt 12 Partnern aus Wissenschaft und Industrie, u. a. auch der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Längst haben die Länder in der EU und weltweit erkannt, dass eine bessere organisatorische, infrastrukturelle sowie technologische Vorbereitung für kommende Krisen notwendig ist. In den genannten Forschungsprojekten werden neue Technologien eingesetzt, um in bestimmten Wirtschaftsbereichen mehr Krisensicherheit zu erzielen. Im Prinzip müssen Unternehmen analog dazu investieren, denn nur durch Technologien kann eine höhere Resilienz aufgebaut werden.

„Automatisierten Checklisten-Algorithmen wenig zielführend“

In Bezug auf die Frage von ERP-Investitionen zeigt sich in der betrieblichen Praxis leider ein anderes Bild. Der Investitionswille allein reicht hier häufig nicht aus. Wer glaubt, es wäre mit einer kleinen Recherche im Internet getan, um vielleicht eine Handvoll an Systemen und entsprechenden Partnern mit der notwendigen Branchenkenntnis zu identifizieren, der hat den deutschen ERP-Markt noch nicht ganz durchdrungen. Erfüllungsgrade von automatisierten Checklisten-Algorithmen werfen selten passende ERP-Anbieter aus. ERP-Portale helfen zwar, auf der Oberfläche die Suche einzugrenzen, führen jedoch dazu, dass die eigenen Kontaktdaten häufig an ERP-Anbieter verkauft werden. Kunden werden anschließend von ERP-Herstellern oder Implementierungspartnern direkt kontaktiert. Zumindest empfinden einige Unternehmen es als leicht aufdringlich, wenn sie innerhalb von 15 Minuten nach Beantwortung eines Fragebogens schriftlich oder telefonisch angesprochen werden. Fachlich bringt eine checklistenbasierte Auswahl aus Sicht des Fraunhofer IML nicht wesentlich weiter.

Auf dem ERP-Markt gibt es über 150 ERP-Hersteller mit teilweise branchenübergreifend einsetzbaren, teils sehr spezifischen Lösungen [4]. Ferner misst der Anbietermarkt über 500 Unternehmen, sogenannte ERP-Partner, die teilweise mehrere ERP-Produkte gleichzeitig anbieten. Einen Überblick zu erhalten ist für Unternehmen sehr schwierig. Die Hersteller und Partner sind hinsichtlich der Unternehmensgröße stark diversifiziert. Somit wird auch eine rein Google-basierte Internetrecherche für manchen Mitarbeiter zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

„Fokus auf interne Prozesse“

Um ein passendes ERP-System für ein Unternehmen auszuwählen, bedarf es im Vorfeld einer detaillierten Analyse und Definition der relevanten unternehmensspezifischen Anforderungen. Ist die Entscheidung für eine strukturierte ERP-Auswahl getroffen, sollte der Blick nicht direkt auf den Markt gerichtet werden. Viel wichtiger ist es, sich mit den internen betrieblichen Prozessen auseinanderzusetzen, um zu definieren, was das neue ERP-System technologisch und funktional mitbringen und welches Geschäftsmodell abgebildet werden muss. So sind beispielsweise folgende Fragestellungen relevant:

  • Welche Abteilungen sollen mit dem neuen System arbeiten und an welchen Stellen im Prozess werden Automatisierungen benötigt?
  • Gibt es Automatisierungen aus der vorhandenen ERP-Lösung, die essenziell beibehalten und in das neue ERP-System überführt werden müssen?
  • Welche Expertensysteme sollen abgebunden werden?
  • Welche Geschäftspartner (Kunden oder Lieferanten) sollen elektronisch an das neue ERP angebunden werden?
  • Welche ggf. künftigen Geschäftsmodelle soll das ERP-System abdecken?

Diese Fragen sollten noch vor der Suche nach passenden Softwareherstellern beantwortet werden, denn nur so kann die Auswahl eines geeigneten ERP-Systems erfolgreich abgeschlossen werden. Ansätze, die ein Überspringen der Ist-Analyse vorsehen und mit einem Fragenkatalog zur Anforderungsdefinition starten (sogenannte agile Auswahlmethoden) sind risikobehaftet, da wesentliche unternehmensspezifische Besonderheiten nicht berücksichtigt werden. Diese „standardisierten Verfahren zur Softwareauswahl“ auf Basis von scheinbar „über die Anbieter hinweg vergleichbare Kriterien“ [5] unterschlagen vollständig organisatorische, transaktionelle und funktionale Aspekte und verzichten auf wertvolle Diskussionsaspekte wie etwa: „Brauchen wir die maximale Ausprägung der Automatisierung?“.

Vor diesem Hintergrund kann nicht oft genug betont werden, dass die Ist-Analyse und die Phase der Soll-Prozessdefinition unerlässlich sind, um einem Anbieter die allgemeinen, aber insbesondere spezifischen Anforderungen strukturiert zu vermitteln.

Mittlerweile zeigen etliche ERP-Anbieter eine deutliche Abwehrhaltung, wenn sie im Rahmen einer Vorauswahl oder ERP-Ausschreibung aufgefordert werden, besonders umfangreiche Kataloge mit Standardkriterien auszufüllen. Aufwand und Nutzen auf Anbieterseite stehen in keinem Verhältnis zu dem Potenzial, den Kunden für sich zu gewinnen. Einige ERP-Anbieter reagieren ablehnend, wenn sie basierend auf Checklisten zur Angebotsabgabe aufgefordert werden, auf der anderen Seite jedoch wenig bis keine konkreten Angaben zu ihren potenziellen Kunden erhalten. Die von einigen Beratungshäusern hochpropagierten standardisierten ERP-Kriterienkataloge spiegeln weder die künftig beabsichtigten Soll-Prozesse des Anwenderunternehmens noch das Geschäftsmodell wider. Ein Mangel an Informationen auf der Anbieterseite führt in der Praxis häufig zu einem gewissen Risikoaufschlag aufgrund fehlender Informationen und nicht kalkulierbarer Dienstleistungsaufwände.

In Zeiten wie diesen, die geprägt sind durch eine hohe Nachfrage nach modernen ERP-Systemen und Personalknappheit auf der Anbieterseite, kommt es mehr denn je auf die Durchführung eines vernünftig strukturierten ERP-Auswahl-Vorprojektes an. Damit soll im Sinne eines Change Managements die Vorbereitung auf die ERP-Implementierung sichergestellt werden und ein Anforderungsdokument (Lastenheft) als Basis für die Eingrenzung potenzieller ERP-Lösungen sowie ein Leitfaden für die Vertragsgestaltung und Einführung entwickelt werden. Standardkriterien zur Beschreibung allgemeiner Anforderungen können dann flankierend (dort, wo sinnvoll) eingesetzt werden.

Fazit

Natürlich kann es auch eine Strategie sein, die vorhandenen betrieblichen Systeme, die nicht mehr dem Stand der Technik oder den betrieblichen Anforderungen entsprechen, einfach für die nächsten 10 Jahre weiterzubetreiben (Vermeidungsstrategie). Die Investitionszurückhaltung rächt sich meist jedoch. Ein Abwägen ist in jedem Fall ratsam, um die Entscheidung zu fundieren, wie auch immer sie am Ende sein mag. So ist es in sinnvoll, zumindest die Höhe der notwendigen Investitionen in ein potenziell neues ERP-System zu kennen, um die Entscheidung für oder gegen die ERP-Erneuerung zu fundieren.

„Investitionsstaus führen zu einem höheren Aufwand im Change Management“

ERP-Erneuerungen, die zu lange aufgeschoben werden (z. B. mehr als 15 Jahre), führen bei einer Neueinführung zu einer Erhöhung der Komplexität im Projekt, da insbesondere die ERP-User von neuen Prozessen, Möglichkeiten und Technologien überzeugt werden müssen. Der Sprung in die digitale Welt mit einem neuen ERP-System kann für den einen oder anderen Mitarbeiter ein Kündigungsgrund sein, da die Hürde zu groß erscheint. Investitionsstaus führen dementsprechend zu einem höheren Aufwand im Bereich des Change Managements.

Während Regierungen im europäischen Raum schon längst erkannt haben, dass die Forschung zur Stärkung der Resilienz in Unternehmen und unternehmensübergreifenden Lieferketten essenziell ist, um eine Art Schutz vor Disruptionen sicherzustellen, müssen sich auch Unternehmen die Frage stellen, wie krisenfest ihre Prozesse und Strukturen sind, um sich entsprechend für neue betriebliche Herausforderungen zu immunisieren und zu wappnen.

Literatur

[1] Biddiscombe, Simon: Die Zukunft der Arbeit, The Everywhere Enterprise, in: IT Security, 10/2020, S. 37.

[2] https://www.iml.fraunhofer.de/de/abteilungen/b2/supply_chain_engineering/forschungsprojekte/co-versatile.html; Abrufdatum 30.08.2022 09:25 Uhr.

[3] https://www.iml.fraunhofer.de/de/abteilungen/b2/supply_chain_engineering/forschungsprojekte/ResKriVer.html; Abrufdatum 30.08.2022 09:05 Uhr.

[4] Gronau, N.: ERP-Systeme. Architektur, Management und Funktionen des Enterprise Resource Planning. München, Wien: De Gruyter 2021.

[5] Wilde, A., Sohn, C.: Achtung, ERP-Hürde!, Wie Agilität bei der ERP-Implementierung unterstützt, ERP-Management, 4.Juli 2022. https://erp-management.de/themen/erp-einfuehrung/artikel/achtung-erp-huerde/. Abrufdatum 03.09.2022.

Katharina Kompalka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund. Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ist die ERP-Beratung in den Branchen Industrie und Handel. Im Zentrum ihrer Tätigkeiten liegt die Strategieentwicklung, Prozessanalyse, Soll-Konzeption von Geschäftsprozessen sowie Ausschreibungsbegleitung

Kontakt

Dipl.-Kff. Katharina Kompalka
Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML)
Abteilung Supply Chain Engineering
Joseph-von-Fraunhofer-Str. 2-4
44227 Dortmund
Tel.: 0231-9743-428
E-Mail: k.kompalka@googlemail.com
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