7. Oktober 2022

Process Mining im Mittelstand

Process Mining hat sich zu einem vielfältig einsetzbaren Instrument des Prozessmanagements entwickelt. Der Beitrag geht auf die Besonderheiten ein, die sich beim Einsatz von Process Mining in mittelständischen Unternehmen ergeben. Er greift nach einer kurzen Begriffsklärung konkrete Anwendungsszenarien aus verschiedenen kleineren und mittleren Unternehmen auf, die im Rahmen von Interviews erstellt wurden. Abschließend werden Handlungsempfehlungen abgeleitet, die für eine erfolgreiche Einführung notwendig sind.

In den 1990er-Jahren wurde Prozessmanagement als betriebswirtschaftliche Methode zur Unternehmensführung konzipiert [1) und hat sich seitdem in vielen Unternehmen etabliert [2). Über viele Jahre hinweg erfolgte die Analyse der Ist-Prozesse in sehr aufwendiger Form auf Grundlage von Interviews, Dokumentenanalysen und zum Teil auch Beobachtungen der Mitarbeiter*innen in realen Prozessen. Diese Informationen wurden in Form von Prozessmodellen visualisiert, z. B. mithilfe der Methode der Ereignisgesteuerten Prozesskette (EPK) [3) oder in letzter Zeit verstärkt mit der Business Process and Model Notation (BPMN) [4). 

Dennoch ist es den Unternehmen oft nicht gelungen, auch nur annähernd alle Varianten eines realen Prozesses zu erfassen, weil die Realität sehr komplex ist. Vielfach sind auch nicht alle Informationen durch Interviews zu erfassen, weil die Informationen nicht vorliegen oder auch nicht bereitgestellt werden. 

Seit einigen Jahren wird die von Wim van der Aalst entwickelte Methode des Process Mining genutzt, um die Vielfalt der Prozessvarianten zu erheben und zu verstehen [5, 6). Sie basiert auf mathematischen Algorithmen, welche reale Prozessdaten (sogenannte „Log Files“ der datenführenden Systeme) analysieren und grafisch aufbereiten. 

Methoden des Process Mining

In diesem Beitrag werden nicht die mathematischen Details von Process Mining beschrieben, sondern nur die verschiedenen Methoden und deren praktische Einsatzbereiche erläutert: Discovery, Conformance und Enhancement. 

Discovery: Hierunter ist die Identifikation und Visualisierung von bisher unbekannten Prozessvarianten zu verstehen. Auf Basis der Event Logs (Ereignisprotokolle) der datenführenden Systeme (z. B. einem ERP-System, Warenwirtschaftssystem, Vertriebsabwicklung u. a.) werden die Datenmengen in einen Prozesskontext gebracht. Ein typischer Anwendungsfall ist ein „Workaround“ durch die Mitarbeiter*innen in einem Prozess, der nicht mit dem Prozessverantwortlichen abgestimmt ist. 

Conformance: Häufig existieren bereits Prozessmodelle (z. B. als EPK-Modell, BPMN-Modell) in einem System (z. B. in einem Workflow-Management-System). Diese stellen Soll-Prozessmodelle dar, nach denen gearbeitet werden soll. Mithilfe der Methode „Conformance“ lassen sich Abweichungen zwischen Soll und Ist aufzeigen. Die Analysen zeigen dem Unternehmen auf, ob die zuvor erarbeiteten Soll-Prozesse realistisch sind und auch eingehalten werden. 

Enhancement: Die erarbeiteten Prozessmodelle enthalten Informationen über den Kontrollfluss (Wer macht was wann?) und die am Prozess beteiligten Artefakte (Systeme, Daten u. a.). Zur Erweiterung und Optimierung bestehender Prozessmodelle mit weiteren Informationen (z. B. Grund einer Verzögerung) wird das Enhancement verwendet. Die Erweiterung oder Optimierung eines Prozesses erfolgt auf Basis der Informationen über den tatsächlichen ausgeführten Prozess, die durch ein Ereignisprotokoll aufgezeichnet werden [5). Im Rahmen der praktischen Umsetzung werden die Methoden Discovery und Enhancement bisher am häufigsten angewendet [7). 

Zusammenfassend lassen sich die drei Methoden wie folgt klassifizieren: 

  • Discovery dient der Identifikation und Dokumentation von unbekannten Prozessen.
  • Conformance dient dem Vergleich von Ist- und Soll-Prozessen. 
  • Enhancement dient der Erweiterung und Optimierung bestehender Prozesse.

Relevanz von Process Mining im Mittelstand

Process Mining ist nicht für bestimmte Branchen oder Größenordnungen von Unternehmen konzipiert worden, sondern generell für die Analyse von Prozessen. Prozesse gibt es bekanntlich auch in vielfältigen Varianten in kleineren und mittleren Unternehmen (KMU). 

Allerdings sind im Mittelstand einige zusätzliche Herausforderungen zu beachten. So gilt die Extraktion und Aufbereitung von geeigneten Prozessdaten als aufwendig und kostenintensiv. Sie erfordert daher insbesondere für den Start die gezielte Identifikation von geeigneten Prozessen. Vielfach fehlt in der Belegschaft auch ein formelles Prozess- und Datenverständnis, was jedoch wichtig für die Prozessanalyse und Optimierung ist. Wie in jedem Projekt ist es bedeutsam, dass die notwendigen Ressourcen (insb. Finanzmittel, Projektpersonal, Infrastruktur) termingerecht und in ausreichender Menge und Qualität bereitgestellt werden.  Fehlendes Expertenwissen in Bezug auf Process Mining kann zwar durch temporäre Beratungsleistungen ausgeglichen werden, langfristig ist jedoch ein Minimum an eigenem Know-how notwendig. 

Ein technisches Implementierungskonzept ist notwendig, um die Process Mining Tools dauerhaft in die IT-Architektur einzubinden. Eine „Einmal-Analyse“ von Prozessen verpufft sonst ohne nachhaltige Wirkungen. Erschwerende Aspekte sind die vielfach anzutreffenden fehlenden durchgängigen IT-Landschaften, eine hohe Heterogenität von Systemen und viele Insellösungen mit Schnittstellen. 

Process Mining ist zudem kein reines IT-Projekt. Es erfordert interdisziplinäre Teams aus IT, Business und Unternehmensleitung. Bei der Auswahl der Tools ist zu beachten, dass die Preismodelle der Process Mining-Anbieter für den regelmäßigen Einsatz nicht immer transparent sind.

Einsatzszenarien von Process Mining im Mittelstand

Die Autorin und Autoren des Beitrages haben Anfang 2022 eine Studie in KMU zum Stand des Process Mining durchgeführt und hierzu Interviews mit mehreren Unternehmen geführt. Nachfolgend werden die wichtigsten Erkenntnisse aus drei Interviews unterschiedlicher Branchen vorgestellt, um die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten von Process Mining in KMU vorzustellen. 

Anwendungsfall „Bank“

Hierbei handelt es sich um einen Mittelständler mit ca. 10.000 Mitarbeiter*innen im Bankensektor, welcher in Deutschland sowie auch international Standorte besitzt. Bisher wurde ein Process Mining-Projekt in dem Unternehmen initiiert, welches noch in der Anfangsphase steht. Der Head of Business Process Management ist als Experte mit Process Mining-Projekten vertraut und lernte bereits Lösungen wie Celonis bei der Umsetzung kennen. 

Eine zentrale Erkenntnis ist für ihn, dass die Identifikation von geeigneten Prozessen sehr individuell ausgestaltet sein kann. Deswegen steht die Implementierung von Standardprozessen im Fokus. Als Grundlage sollten die eigenen Prozesse im Unternehmen bekannt sein und zunächst übersichtlich strukturiert werden. Im Bereich der End-to-End-Prozesse sind die eindeutigen Prozess-IDs essenziell. Hier kann das Problem entstehen, dass ein End-to-End-Prozess sich über mehrere IT-Systeme erstreckt und keine einheitliche Prozess-ID zur Verfügung steht. 

Mithilfe von Process Mining konnten dennoch bereits mehrere Ergebnisse erzielt werden. Die Generierung von Heatmaps, Dashboards, Übersichten zur Einsicht in die Prozesse sowie die Kommunikation von Kennzahlen wurde transparent gestaltet. Darüber hinaus bietet Process Mining für die Bank Potenziale, um Bots anbinden zu können. 

Anwendungsfall „Spielzeughersteller“

In diesem Unternehmen ist ein Experte der Spielzeugbranche befragt worden. Die Umsetzung des Process Minings wird durch ihn als Head of Operation and Excellence begleitet. Das Projekt steht aktuell in der Einführung von Process Mining für den Purchase-to-Pay-Prozess. 

Grundsätzlich empfiehlt er, Prozesse mit einem hohen IT-Unterstützungsgrad auszuwählen, da dann die notwendigen Prozessdaten vorliegen (z. B. Logfiles von ERP-Systemen). Beispiele hierfür sind klassische Serviceprozesse oder die Prozesse Order-to-Cash bzw. Purchase-to-Pay. 

Ein erheblicher Aufwand wird durch den richtigen Datenumgang und die Extraktion und Integration in die Process Mining Excellence-Systeme verursacht. Standard-Konnektoren der Process Mining Tools zu den Systemen vereinfachen dabei den Aufwand und werden deswegen bei der Umsetzung als Anforderung fokussiert. 

Im aktuellen Stand des Projektes generiert der Purchase-to-Pay-Prozess bereits Vergangenheitsdaten. Mit dem Process Mining Tool sollen Echtzeitdaten generiert und zur Prozessanalyse bereitgestellt werden. Für das mittelständische Unternehmen aus der Spielzeugbranche stellen insbesondere individuelle Prozesse mit vielen Besonderheiten und einem geringen Automatisierungsgrad eine große Herausforderung dar. Aus den bisherigen Ergebnissen der Process Mining-Umsetzung kann das Unternehmen sogenannte „Fast Wins“ ableiten. Diese zeigen eine schnelle Erkennung von richtigen oder falschen Tätigkeiten auf, sodass ein schnelles Feedback die Entscheidungen unterstützen kann. Des Weiteren konnten auch bereits manuelle Tätigkeiten erfasst werden, um diese dann zu optimieren und automatisieren. 

Die aktuelle Relevanz von Process Mining wird mit einer mäßigen bis hohen Wichtigkeit bewertet. Hier sieht das Unternehmen eine Herausforderung in der Einschätzung von Aufwänden gegenüber dem Nutzen. Der Anwendungsaufwand nimmt insgesamt mit zunehmender Prozessindividualität deutlich zu.    

Anwendungsfall „Nahrungsmittelhersteller“

Der in diesem Fall befragte Experte ist als Digital Excellence Manager bereits seit 3 Jahren für ein Process Mining-Projekt eines mittelständischen Unternehmens der Nahrungsmittelbranche mit ca. 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verantwortlich. Mit der Anwendung von Process Mining wurden bereits positive Erkenntnisse gewonnen. Bei diesem Anwendungsfall konnte ein besonderer Mehrwert im Bereich des Reporting verzeichnet werden. 

Zu Beginn wurde die Umsetzung von Process Mining auf die End-to-End-Sicht der Kernprozesse des Unternehmens gelegt. Es sollte ein Einblick in das Unternehmen gewonnen werden. Parallel wurde die Soll-Prozessgestaltung durch „BPMN Suits“ ausgestaltet, sodass zum einen eine modellhafte Grundlage der Prozesse bestand und zusätzlich mit Process Mining eine Sicht auf die Systeme ermöglicht werden konnte. Ein Erfahrungswert war dabei, dass die lokal installierte Version des Process Minings für den Prozessmodellaufbau der End-to-End-Prozesse geeignet war. Dieser Ansatz war stark auf einzelne Objekte ausgerichtet, sodass eine Verknüpfung dieser Objekte innerhalb einer End-to-End-Betrachtung technische und logische Herausforderungen mit einer hohen Komplexität zeigte. Werden Prozessschritte undifferenziert zusammengefasst, sind einzelne Mining-Erkenntnisse schwer zu erlangen. Gründe dafür sind eine hohe Variantenzahl und hohe Abhängigkeiten mit unterschiedlichen Kardinalitäten. Das bedeutet z. B., dass aus einem Kundenauftrag mehrere Produktionen oder Lieferungen entstehen können und eine Lieferung wiederum viele unterschiedliche Kundenaufträge bedienen kann. Entsprechend ist hier die Empfehlung, dass Prozesse für das Prozess Mining in einzelne geschäftliche relevante Teilaspekte gegliedert werden sollten. Durch diese separate Betrachtung können mit Process Mining sehr gute Erkenntnisse generiert werden.  

Fazit aus den Interviews 

Grundsätzlich sind sich alle Befragten einig, dass der Aufbau einer geeigneten Systemlandschaft sequenziell erfolgen sollte. Eine komplette Neuausrichtung der IT-Infrastruktur wird abgelehnt. Die aktuelle Relevanz von Process Mining wird in allen Fällen als wichtig eingestuft. Aus der wirtschaftlichen Perspektive wird dem Process Mining ein hohes Potenzial zugeschrieben. 

Besonders in einem schnell wachsenden Unternehmen mit mehreren Standorten kann ein zentraler Einblick über die standortübergreifende Prozessausführung erreicht werden. Process Mining treibt die Digitalisierung und die Automatisierung voran: „Innerhalb von wenigen Wochen erhalten wir eine Einsicht, ob Prozesse standortübergreifend funktionieren, dies war früher nur über den Jahresabschluss erkennbar.“ (Anwendungsfall „Nahrungsmittelhersteller“) 

Voraussetzung für die Umsetzung

Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei Process Mining Projekten nicht um reine IT-Projekte, sondern wie so häufig um Projekte mit „Change Management-Charakter“. Es betrifft also die Personen, die Prozesse und die Technologie.  

Prozesskultur schaffen

Eine wichtige Kernvoraussetzung liegt im Prozessverständnis und in der Prozessverantwortung der beteiligten Personen. „Darüber hinaus benötigt man Personal mit ‚Data Skills‘, die den Datenhaushalt managen. Es geht darum, die richtigen Daten zu identifizieren und Schnittstellen zu allen notwendigen Applikationen herzustellen.“ (Anwendungsfall „Bank“)

Richtige Prozesse identifizieren

Als weitere Grundvoraussetzung werden die Festlegung und die notwendige Identifikation eines geeigneten Prozesses genannt. „Die Prozesse sollten bereits dokumentiert sein und in einem Tool hinterlegt werden. Dies bedeutet, dass das Prozessmanagement im Unternehmen eine gewissen digitalen Reifegrad haben sollte. Je höher der Digitalisierungsgrad in einem Prozess, umso besser kann das Process Mining erfolgreich umgesetzt werden.“ (Anwendungsfall Spielzeughersteller) 

Zielkriterium für den Erfolg festlegen

Zu Beginn eines Projektes sollte festgelegt werden, was gemessen werden soll und in welchem End-to-End-Prozess das Process Mining umgesetzt werden soll. „Ein dezentraler Ansatz sollte im Process Mining angestrebt werden“ (Anwendungsfall „Nahrungsmittelhersteller“). Eine grundsätzliche Ziel- und Strategiefestlegung ist dabei unumgänglich, sodass die nötigen Voraussetzungen und Ressourcen bereitgestellt werden.

Literatur

[1] Knuppertz, Thilo und Feddern, Uwe: Prozessorientierte Unternehmensführung: Prozessmanagement ganzheitlich einführen und verankern, Stuttgart, 2011, Schäffer-Poeschel.

[2] Gadatsch, Andreas: Grundkurs Geschäftsprozess-Management, 9. Auflage, Wiesbaden, 2020, Springer Fachmedien Wiesbaden.

[3] Keller, G.; Nüttgens, M.; Scheer, A.-W.: Semantische Prozeßmodellierung auf der Grundlage „Ereignisgesteuerter Prozeßketten (EPK)“, in: Scheer, A.-W. (Hrsg.): Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschaftsinformatik, Heft 89, Saarbrücken 1992. (http://www.iwi.uni-sb.de/iwi-hefte/heft089.pdf)

[4] Allweyer, Thomas: BPMN – Business Process Modeling Notation: Einführung in den Standard für die Geschäftsprozessmodellierung, Norderstedt, 3. Auflage 2015

[5] van der Aalst, Wil M. P. (2011): Process Mining. Discovery, Conformance and Enhancement of Business Processes. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.

[6] van der Aalst, Wil (2012): Process Mining. In: ACM Trans. Manage. Inf. Syst. 3 (2), S. 1–17. DOI: 10.1145/2229156.2229157.

[7] Alpers, Sascha, Karle, Thomas, Schreiber, Clements; Schönthaler, Frank; Oberweis, Andreas. Process Mining bei hybriden Vorgehensmodellen zur Umsetzung von Unternehmenssoftware. Informatik Spektrum 44, 178–189 (2021). https://doi.org/10.1007/s00287-021-01359-7

Prof. Dr. Andreas Gadatsch ist Direktor im Institut für Management und Leiter Data Innovation Lab an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin.

Dipl.-Kfm. Thilo Knuppertz ist Gründer und Geschäftsführer der BPM&O GmbH in Köln und als Managementberater sowie Trainer tätig.

Valentina Irini Tsingeni, M.Sc. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Data Innovation Lab der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin. 

Prof. Dr. Andreas Gadatsch
Hochschule Bonn-Rhein-Sieg
Fachbereich Wirtschaftswissenschaften
Institut für Management (IFM) | Data Innovation Lab
Grantham-Allee 20
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E-Mail: Andreas.gadatsch@h-brs.de