9. August 2023

Messung der ERP-Reife

Cite this article:
Eggert, S. (2023): Messung der ERP-Reife. DPI Verlag, In ERP Information 3/2023, S. 19–21

https://doi.org/10.58678/erp-information_23-3_19-21

Meist ist die Nutzung des ERP-Systems nach der Implementierungsphase noch nicht in einem idealen Zustand. Zudem ist die Betriebsphase von ERP-Systemen generell von Änderungen wie z. B. Systemupdates, der Umsetzung neuer gesetzlicher Forderungen oder der Integration weiterer Systeme geprägt. Eine detaillierte Ist-Analyse der aktuellen ERP-Reife zeigt Schwachstellen und mögliche Potenziale auf, die den ERP-Betrieb verbessern können. Der folgende Beitrag beschreibt ein Verfahren, das die ERP-Reife eines Unternehmens entlang verschiedener Dimensionen abbildet.

Die ERP-Reife beschreibt neben dem Grad an Erfahrungen auch die Nutzungsintensität der betrieblichen Anwendung im Unternehmen. Dabei spielen zudem die Integration des Systems bzw. der Systeme in die Prozesslandschaft und das damit verbundene Prozessverständnis eine wesentliche Rolle [1]. Eine Reifegradbestimmung trägt dazu bei, den ERP-Einsatz zu bewerten und mögliche Potenziale zu identifizieren. Die Einordnung in Reifegrade orientiert sich hierbei an unterschiedlichen Kriterien, die innerhalb des Modells als Dimensionen bezeichnet werden. 

Dimensionen zur Bestimmung der ERP-Reife

Die Reifegradmessung erfolgt über unterschiedliche Betrachtungsbereiche, sogenannte Dimensionen, die zur Bestimmung des Reifegrades festgelegt wurden. Diese Dimensionen enthalten entsprechende Unterdimensionen, die insgesamt mit 119 spezifischen Abfragen versehen sind [1]:

System: Die Dimension „System“ enthält insgesamt 39 Fragen und stellt ein zentrales Element zur Reifegradermittlung dar. Aufgrund der umfangreichen Betrachtung werden hier weitere Unterdimensionen definiert, die die Messung besser strukturieren sollen. Zu den Schwerpunkten innerhalb der Dimension gehören u. a. die eingesetzten Systeme (z. B. Kopplung der Systeme, Schnittstellen), Datenqualität (z. B. einheitliche Datenbasis, Stammdatenmanagement) und die Integrationstiefe (z. B. Medienbrüche, Schnittstellen). Die Unterdimensionen wurden mit den Kategorien Softwareeinsatz, technische Angaben, Integration, Usability, Mobilität, Sicherheit, Schnittstellen, Hardware sowie Stammdaten bezeichnet. Die dahinterliegenden Fragestellungen geben Aufschluss über den durchgängigen Informationsaustausch zwischen den eingesetzten IT-Lösungen und zeigen auf, in welcher Tiefe der IT-Einsatz innerhalb der gesamten Wertschöpfungskette abgebildet wurde. 

  • Dokumentation: Die Dimension „Dokumentation“ beinhaltet 20 Abfragen und konzentriert sich neben der Prozessdokumentation auch auf die IT-Systemdokumentation. Insbesondere werden hier Standards und Zugriffe fokussiert. Die Unterdimension Digitalisierung erfragt innerhalb dieser Dimension die digitale Ablage und Verfügbarkeit der Daten und Dokumente. 
  • Mitarbeitende: Die dritte Reifegraddimension enthält 26 Fragen und stellt die Grundlage zur Systemnutzung dar. Sie bezieht sich auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens. Hierbei werden Angaben zur Qualifikation und Expertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezüglich der eingesetzten IT-Lösungen und Prozesse erhoben. Weitere Fragen dienen der Ermittlung der Kompetenzen zur Anpassung von IT-Anforderungen. Die in dieser Dimension aufgestellten Bereiche sind das Mitarbeiterwissen, die Unternehmenskultur sowie Erfahrungen, Angaben zur Organisation und Veränderungsbereitschaft. 
  • Prozesse: Diese Reifegraddimension enthält ebenfalls 26 Abfragen und fokussiert die Systemnutzung innerhalb der Geschäftsprozesse. Dabei wird u. a. aufgenommen, wie durchgängig die Prozesse mithilfe des ERP-Systems abgebildet werden, ob kontinuierliche Prozessverbesserungen stattfinden und inwieweit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Lage sind, diese Prozesse umzusetzen. Die Fragestellungen innerhalb dieser Dimension wurden unterteilt in allgemeine Angaben, Prozessmanagement, Prozessanwendung, Verantwortlichkeiten sowie Prozessdokumentation.
  • Strategie: Die fünfte Reifegraddimension bildet die Fragen zur Strategie ab und fokussiert vorrangig den Einfluss der ERP-Nutzung auf die IT- und die Unternehmensstrategie. Dabei wird ermittelt, ob innerhalb der IT-Strategie auch Anforderungen an das ERP-System definiert wurden und ob das ERP-System maßgeblich zur Erreichung der strategischen Unternehmensziele eingesetzt wird.

Die Abfrage erfolgt unter Verwendung standardisierter Fragebögen je Dimension. Die Beantwortung der Abfragen, also die Bewertung erfolgt entlang der Stufen von 0 bis 4. Die Stufe 0 stellt dabei den niedrigsten Wert (z. B. nicht vorhanden/nicht möglich) dar und die Stufe 4 den höchstmöglichen Wert. Diese Bewertungen münden entsprechend der jeweiligen Dimension in die Reifegradbewertung. Die Reifegrade je Dimension sind beispielhaft in Bild 1 dargestellt. Der ERP-Reifegrad ergibt sich aus dem Mittelwert der Reifegrade je Dimension, wobei der ermittelte Reifegrad auch in jeder Dimension vorhanden sein muss. Der ERP-Reifegrad des Unternehmensbeispiels in Bild 1 liegt entsprechend bei 1. 

Die allgemeinen Beschreibungen der Reifegradstufen sind in Tabelle 1 aufgeführt. Das mittelfristige Ziel des untersuchten Unternehmens ist das Erreichen der nächsten Reifegradstufe, was unmittelbar zur Verbesserung des ERP-Einsatzes führt. Im aufgeführten Beispiel (Bild 1) ist dies die Reifegradstufe 2 in allen Dimensionen, auch wenn diese Stufe bereits in einer Dimension (Mitarbeitende) erreicht wurde. Als langfristiges Ziel gilt es, die nächsthöhere Reifegradstufe zu erzielen, also Stufe 3. Dies trägt zur kontinuierlichen Verbesserung der ERP-Nutzung bei.

Bild 1: Dimensionen der Reifegradmessung.

Praxiseinsatz

Das beschriebene Verfahren zur Erhebung der ERP-Reife wurde für den Einsatz in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) entwickelt und bereits innerhalb mehrerer Testdurchläufe auf deren Praxistauglichkeit evaluiert. Gerade KMU spielen eine zentrale wirtschaftliche Rolle [2]. In Deutschland gehörten bspw. im Jahr 2020 99,3 % aller Unternehmen in den Bereich KMU, die im selben Jahr 33,7 % des gesamten Umsatzes in Deutschland erwirtschafteten [3].

Die Nutzung von Standardsoftware, insbesondere ERP-Systemen, ist in KMU weit verbreitet, denn sie bieten diesen Unternehmen zahlreiche Vorteile in Bezug auf eine transparente Unternehmenssteuerung [4]. Nicht nur die Implementierung eines ERP-Systems in KMU ist äußerst komplex und geht mit hohen Risiken einher [5, 6], auch die Betriebsphase stellt oft eine große Herausforderung für Unternehmen aus dem Bereich KMU dar.

Dieses Verfahren ermöglicht es, mit geringem Aufwand die Schwachstellen der ERP-Nutzung zu identifizieren und Maßnahmen zur Verbesserung abzuleiten.

Nutzen

ERP-Einführungen stellen große organisatorische und auch kostenintensive Herausforderungen vor allem für kleine und mittlere Unternehmen dar. Das entwickelte Verfahren soll als Instrument zur Bewertung der ERP-Reife eingesetzt werden, um gezielt Maßnahmen zur Verbesserung der ERP-Nutzung ableiten zu können. Die Bereitstellung von möglichst konkreten Maßnahmen ist damit ein elementarer Bestandteil innerhalb einer Reifegradmessung. Die ERP-Reifegradmessung kann vor einer ERP-Einführung eingesetzt werden, um unternehmensspezifische vorbereitende Maßnahmen zu identifizieren, die den Projekterfolg absichern können. Aber auch während des ERP-Betriebs kann die ERP-Reifegradmessung wertvolle Hinweise zur Verbesserung des ERP-Einsatzes liefern. 

Tabelle 1: Beschreibung der Reifegradstufen (in Anlehnung an [1]).

Ausblick

Im Rahmen einer aktuellen Weiterentwicklung des beschriebenen Verfahrens erfolgte eine prototypische Umsetzung einer Webanwendung dieser Reifegraderhebung auf Basis eines User-Experience-Design-Prozesses [7]. Ziel ist es, eine nutzerfreundliche Webanwendung für die Ermittlung der ERP-Reife eines KMU zu realisieren. 

Literatur

[1] Eggert, S.: Ansatz zur Bestimmung der ERP-Reife mittelständischer Unternehmen, In: Wolf, M. R.; Barton, T.; Hermann, F.; Mester, V. G.; Müller, C.; Seel, C. (Hrsg.): Angewandte Forschung in der Wirtschaftsinformatik 2019, 107-118, 2019.

[2] Kiran, T.; Reddy, A.: Critical success factors of ERP implementation in SMEs. Journal of Project Management, 4, pp. 267-280, 2019

[3] Institut für Mittelstandsforschung Bonn, (2023): Mittelstand im Überblick: Volkswirtschaftliche Bedeutung der KMU. https://www.ifm-bonn.org/statistiken/mittelstand-im-ueberblick/volkswirtschaftliche-bedeutung-der-kmu/deutschland

[4] Potthoff, I.: Kosten und Nutzen der Informationsverarbeitung. Wiesbaden, 1998

[5] Aloini, D.; Dulmin, R.; Mininno, V.: Risk management in ERP project introduction: Review of the literature. Information & Management, 44(6), 547-567, 2007.

[6] Shibly, H. R.; Abdullah, A.; Murad, M. W.: ERP Adoption in Organizations, The Factors in Technology Acceptance Among Employees. s.l.: Palgrave Maxmillan, 2022

[7] Eggert, S.; Heise, M.: Userorientierter Prototyp zur ERP-Reifegradermittlung – Prototyp zur Erhebung des ERP-Reifegrads unter Verwendung eines User Experience Design-Prozessmodells; Angewandte Forschung in der Wirtschaftsinformatik 2023 

Prof. Dr. Sandy Eggert beschäftigt sich seit fast 20 Jahren mit dem Thema ERP. Sie ist leitende Redakteurin der Fachzeitschrift ERP Information und hat eine Professur für Wirtschaftsinformatik an der HWR Berlin inne.

Prof. Dr. Sandy Eggert
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
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