30. Mai 2023

ERP-Trends 2023: Fokus Produktlebenszyklus

Die Redaktion der Zeitschrift ERP Information berichtet regelmäßig und aktuell über Themen aus dem Bereich IT und insbesondere ERP. Dazu konnte sie den ERP-Experten Karl Tröger für einen Austausch zu den aktuellen ERP-Trends 2023 gewinnen. Lesen Sie in diesem Beitrag, welche Entwicklungen zu erwarten sind, welche Rolle Brückentechnologien spielen, wozu virtuelle Kollaborationsplattformen dienen, über die Grundidee der Schwarmfertigung sowie über Wege, Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

Redaktion: Herr Tröger, ERP-Systeme sind in vielen Unternehmen das Herzstück der IT-Landschaft und als solche eine wichtige Komponente bei digitalen Transformationsprozessen. Inwieweit beeinflusst der digitale Wandel auch 2023 die ERP-Welt? 

Karl Tröger: Die Entwicklungen stehen natürlich auch in diesem Jahr ganz im Zeichen des industriellen Wandels und bestimmen gleich mehrere der Top-Trends. Dazu zählt vor allem die Modernisierung von Legacy-Systemen. In der jüngeren Vergangenheit wurde dieser Begriff stark negativ besetzt und viele Unternehmen fürchteten, IT-seitig auf der „grünen Wiese“ starten zu müssen. Mittlerweile gibt es wieder eine stärkere Annäherung an den eigentlichen Wortsinn: Erbschaft oder Vermächtnis. Unternehmen haben folglich für sich erkannt, dass ihre gut gewartete und regelmäßig aktualisierte ERP-Lösung durchaus den Stand der Technik widerspiegelt und für sie sogar zum digitalen Enabler werden kann. 

Redaktion: Unternehmen werden sich 2023 also vermehrt um die Modernisierung ihrer eingesetzten Systeme kümmern. Können Sie ein konkretes Beispiel aufführen?

Karl Tröger:  Unabdingbar sind in diesem Zusammenhang z. B. Brückentechnologien. In der Praxis setzen sich u. a. Low-Code-basierte Systemerweiterungen durch. Da sie meist grafisch orientiert sind, befähigen sie auch Nicht-Experten, Bestandssysteme flexibel anzupassen und Funktionen sowie Prozesse eigenständig auszugestalten. Gut aufgestellte Hersteller bieten ihren Anwendern eigene, für das System passgenaue Lösungen. 

Redaktion:  Gibt es denn auch Grenzen dieser Rückbesinnung auf Bewährtes?

Karl Tröger: Natürlich sind Unternehmen gefordert, Alterserscheinungen früh zu erkennen und ernst zu nehmen. Lassen sich z. B. Anforderungen an die Datenhaltung oder Sicherheit nicht mehr erfüllen und die Schnittstellenkomplexität nimmt kontinuierlich zu, gilt es genau hinzuschauen und den System-Support des Anbieters zu hinterfragen. Denn ohne Support ist natürlich auch keine Modernisierung möglich. Ich würde es so zusammenfassen: Können Mensch und System den gestiegenen Anforderungen an Flexibilität, Wandlungsfähigkeit und Lieferkettenmanagement nicht mehr entsprechen, ist ein Austausch der Systembasis unvermeidbar. 

Redaktion: Welchen weiteren Trend sehen sie mit Blick auf das aktuelle Jahr 2023?

Karl Tröger: In den Fokus rücken auch sogenannte virtuelle Kollaborationsplattformen, die Partner in einem Wertschöpfungsnetzwerk bi- oder multilateral miteinander vernetzen. Sie stehen im engen Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, die zugleich Mehrwerte für Anbieter und Anwender erzeugen. Die involvierten Akteure kommunizieren in virtuellen Netzwerken auf Basis standardisierter Modelle, die im Kontext von Industrie 4.0 entstehen. 

Redaktion: Industrie 4.0 ist ein gutes Stichwort, zumal der ein oder andere behauptet, Deutschland hätte diese Entwicklung vollends verschlafen. Gibt es aus diesem Bereich einen weiteren Top-Trend?

Karl Tröger: Den gibt es und er steht im Zusammenhang damit, dass ERP-Lösungen heute und in Zukunft Unternehmen zu hoher Resilienz und Wandlungsfähigkeit befähigen müssen. Smart Manufacturing ist hier das Stichwort. Wir alle wissen, wie volatil die Absatz- und Beschaffungsmärkte sind und was passiert, wenn Unternehmen auf instabile Lieferketten nicht angemessen reagieren bzw. ihre Produktionssysteme nicht im erforderlichen Tempo anpassen können. Flexibilisierte Beschaffungsroutinen gehören ebenso zur Lösung wie schnelles Umplanen von Aufträgen unter Berücksichtigung der Nachschubsituation und der verfügbaren Ressourcen. 

Redaktion: Software allein kann dies doch aber nicht leisten.

Karl Tröger: Das stimmt. Die Anforderungen, die sich an die Produktionssteuerung ergeben, u. a. eine immer höhere Produktvielfalt und die Notwendigkeit, schnellstmöglich Störungen zu beheben, erfordern in erster Linie auch neue Fertigungsprinzipien, etwa die Schwarm- oder Matrixproduktion. Grundidee der Schwarmfertigung ist es, Arbeitsinhalte auf mehrere, ggf. auch externe Produktionssysteme zu verteilen. Die Matrixproduktion zeichnet sich dadurch aus, dass der Materialfluss und damit die Abarbeitung der Aufträge durch die Transportmittel, z. B. miteinander verbundene, autonome Fertigungsinseln, bestimmt wird. Hier kommt dann wieder das ERP-System ins Spiel. Denn für beide Ansätze sind Lösungen jenseits herkömmlicher Planungsalgorithmen vonnöten. Auch die Aktualität der Daten spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Planungs- und Ausführungsebene müssen also eng miteinander in Verbindung stehen, bzw. ERP- und MES-Lösungen nahtlos miteinander verknüpft werden. Das bringt mich gleich zum nächsten Trend – dem digitalen Aftermarket. Denn der erfordert, dass ERP-Systeme künftig den vollständigen Lebenszyklus von Produkten ins Visier nehmen. Auch dies geht nur, wenn Verbindungen zu weiteren Systemen hergestellt werden. 

Redaktion: Serviceangebote haben in vielen Wirtschaftszweigen, z. B. im Maschinen- und Anlagenbau, schon immer eine bedeutende wirtschaftliche Rolle gespielt. Was verändert sich?

Karl Tröger: Einerseits werden Angebote weiter ausgebaut und andererseits in Branchen etabliert, in denen es sie in dieser Form bislang nicht gab. Herausfordernd ist, dass an dem kombinierten Angebot von Sach- und Dienstleistungen mehrere Unternehmen beteiligt sind. ERP-Systeme müssen die Kollaboration mit Kunden, Lieferanten und Partnern abbilden und die entsprechenden Prozesse unterstützen, mit denen die Dienst- bzw. Serviceleistungen erbracht werden.

Redaktion: Das klingt nach Predictive Maintenance.

Karl Tröger: Ja, aber eben im Feld. ERP-Systeme bilden nicht mehr nur den eigentlichen Produktionsprozess eines Erzeugnisses ab (As-Built-Zustand), sondern auch den Zustand beim Kunden (As-Operated-and-Maintained-Zustand). Hierfür sind die Systeme auf Informationen vom Engineering bis zum Betrieb im Feld angewiesen. 

Redaktion: Wie sieht es denn mit dem Megatrend Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung aus. Inwieweit sind auch ERP-Systeme im Zugzwang – bzw. sehen Sie hier überhaupt einen Trend?

Karl Tröger: Ja, und vielleicht hätte dieser Trend sogar ganz an den Anfang gehört. Die Industrie steht unter großem Druck, Teil der Lösung zu werden, statt ausschließlich Teil des Problems zu sein. Auch ERP-Systeme werden daher unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten mehr leisten müssen. Dazu zählen eine weitere Verbesserung von Energie- und Materialeffizienz, die Unterstützung einer Kreislaufwirtschaft und die Nutzung vorrangig umweltfreundlicher Energiearten. Dies kann gelingen, indem noch mehr Wissen über die betrieblichen Zusammenhänge und Prozesse generiert wird.  

Redaktion: Gibt es hier denn erste Ansätze?

Karl Tröger: Das ERP-System PSIpenta kann z. B. durch Algorithmen ergänzt werden, mit denen Unternehmen ganz konkret auch unter Umweltaspekten Mengen und Termine bestimmen, Reihenfolgen optimieren und Ressourcen bestmöglich nutzen können. Zudem helfen KI-gestützte Prognosen Überproduktion und Verschwendung zu vermeiden. Hinzu kommt, dass der CO2-Footprint um die Angaben aus Zulieferungen und der gesamten Lieferkette ergänzt wird. Die relevanten Daten werden aber an unterschiedlichsten Stellen erhoben, sodass es für eine realistische Bewertung und Auswertung einer übergeordneten Datenkonsolidierung bedarf. Dafür bieten sich wiederum ERP-Systeme an. Denn hier entstehen ja ohnehin die meisten Daten. 

Karl Tröger ist Business Development Manager des ERP-MES-Anbieters PSI Automotive & Industry und seit über 20 Jahren im ERP-Markt beschäftigt. Der Diplom-Ingenieur der Elektronik und Nachrichtentechnik ist an der von der Bundesregierung initiierten Plattform Industrie 4.0 beteiligt und veröffentlicht regelmäßig Publikationen über die Zukunft von fertigungsnaher Software.

Karl Tröger
PSI Automotive & Industry GmbH
E-Mail: ktroeger@psi.de
www.psi-automotive-industry.de