2. April 2023

ERP-Systeme in der Ära des Cloud Computings

Cite this article:
Schütte, R. (2023): ERP-Systeme in der Ära des Cloud Computings. DPI Verlag, In ERP Information 1/2023, S. 15–19

https://doi.org/10.58678/erp-information_23-1_15-19

ERP-Systeme haben eine lange Historie und sind technologisch nicht immer auf dem aktuellen Stand. In diesem Beitrag wird skizziert, welche betriebswirtschaftlichen und technologischen Herausforderungen die Zukunft dominieren werden und welche Implikationen dies für die Entwicklung von ERP-Systemen haben wird.

Seit den 60er-Jahren wird die Automatisierung von Aufgaben in Unternehmen mithilfe von Anwendungssystemen praktiziert, die im Bereich der Fertigung von Industriebetrieben begonnen hat. Material-Requirements-Planning-Systeme bilden den Startpunkt, der über Manufacturing-Resource-Planning-Systeme in den 80er-Jahren dann zu ERP-Systemen geführt hat. Dabei ist nicht zu vergessen, dass bereits in den 70ern Aufgaben im Finanz- und Rechnungswesen vorrangig durch die SAP mit ihrem R/2-System in den Modulen RF (Realtime-Finanzbuchhaltung) und RK (Realtime-Kostenrechnung) unterstützt wurden und Standardsoftware aus einer anderen Domäne entstanden ist. 

Bild 1: Komponenten eines umfassenden Enterprise-Systems [1].

Zusammen genommen haben sich ERP-Systeme etabliert, die einen sehr ganzheitlichen Anspruch vertreten. Mit Enterprise-Resource-Planning wird bereits begrifflich der stetig voranschreitende Anspruch von Softwaresystemen deutlich, betriebliche Aufgaben immer umfassender mithilfe von standardisierten Softwaresystemen zu unterstützen. Der Prototyp für ERP-Systeme ist das seit Mitte der 90er-Jahre weltweit erfolgreichste ERP-System: das SAP R/3-System mit seinen diversen Nachfolgern und Nachahmern. 

Seit Anfang der 2000er konnte, ein wenig unbemerkt von vielen Protagonisten, dieser fundamentale Anspruch von ERP-Systemen nicht mehr beibehalten werden, denn ERP-Systeme sind selten in der Lage, vollumfänglich sämtliche Anforderungen abzubilden. ERP-Systeme hatten vor allem einen unternehmensinternen Fokus. Es haben sich seitdem Systeme mit dedizierten Zwecken entwickelt. Hierzu zählen vor allem Customer-Relationship-Systeme (CRM), Supply-Chain-Management-Systeme (SCM) und Shopsysteme. Aus ehemals nur einem zentralen System, dem ERP-System, hat sich im Laufe von dreißig Jahren eine Vielzahl von Applikationssystemen ergeben, für die die Hersteller Lizenzgebühren (als Mietgebühr oder als einmalige Zahlung mit anschließenden Wartungskosten) erhalten (Bild 1). 

Die Softwarehersteller bieten meist mehrere Applikationen an, welcher keiner einheitlichen technischen Basis unterliegen. Dies hat u. a. seine Ursache in den zugrundeliegenden Unternehmenszukäufen und der damit verbundenen Übernahme der Lösungen der Hersteller. Es haben sich Plattformen und Ökosysteme etabliert, die für das technisch-wirtschaftliche Verständnis der Software relevant sind. Die unterschiedlichen Applikationen (Produkte), die ein Unternehmen nutzt, sind zwar häufig einem Ökosystem des Herstellers (z. B. SAP) zuzurechnen, allerdings sind die Lösungen von technischer Heterogenität geprägt. Die Rede von einem zentralen ERP-System dürfte daher längst der Vergangenheit angehören.

Außerdem ist das Verständnis von Standardsoftware im ERP-Kontext oftmals missverständlich, denn im engeren Sinne des Wortes ist nach der Einführung von „generischer Standardsoftware“ trotzdem kein Standard eingeführt worden. Anhand des Zitats des ehemaligen CIOs von ALDI Nord sei das Problem skizziert: „[…] Die Einführung war maßgeblich davon getrieben, die alte Lösung durch eine neue Lösung zu ersetzten. Das heißt, man hat jetzt weniger strategisch geguckt, wie kann ich die Prozesse direkt optimieren, sondern man brauchte eine weiterfunktionierende Lösung. Und deswegen hat man SAP als Standard genommen. Aber nur die wenigsten wissen, dass dieser Standard sehr breit auszudefinieren ist und man auch viele Möglichkeiten der Individualisierung hat.

Bild 2: Charakteristika des Cloud(-native) Computings.

Man ist schlussendlich hingegangen und hat sehr auf die bestehenden Bedarfe der jeweiligen Fachbereiche bzw. Länderspezifika gehört und hat eben nicht standardisiert, sondern in hohem Maße individualisiert. Wenn man das mal so vergleicht, sich das Coding mal ansieht, sind ungefähr 70 Prozent der Codestrecken, die wir heute nutzen, individueller Natur. Das heißt, tatsächlich selber entwickelt bzw. modifiziert, im SAP-Sprachgebrauch, und nur ungefähr 30 Prozent der Codestrecke sind von der Software, vom Hersteller übernommen. […]“ [2].

Auch bei mittelständischen Unternehmen gibt es einen großen Bedarf an Prozessen, die in dieser Form nicht mithilfe der Standardlösungen abbildbar sind. Auf eine theoretische Erörterung, warum dieses beinahe zwangsläufig der Fall ist, sei an dieser Stelle verzichtet [1].

Es gilt vor dem Hintergrund des heutigen Status quo einmal zu erörtern, welche Anforderungen Unternehmen an die Entwicklung von ERP-Systemen und ihren Ergänzungen stellen und welche technischen Entwicklungstendenzen sich bereits abzeichnen. 

Entwicklungstendenzen von ERP-Systemen

Betriebswirtschaftliche Leitplanken 

Aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive sollen drei Aspekte besonders betont werden, die in der Zukunft die Entwicklung von ERP-Systemen und deren Einsatz in der Praxis begleiten werden [1].

Digitalisierter Aufgabenumfang: im Zuge der Digitalisierung ist die Wertschöpfung nicht nur mittels materieller Produkte zu erzielen, sondern viele (informationelle) Services und die Entwicklung von Unternehmen hin zu Plattformen sind zu beachten. Es werden nicht nur Vorprodukte eingekauft, Produkte konstruiert, produziert und an Kunden verkauft, sondern es sind Kombinationen aus Informationen, Services und materiellen Entitäten, die heute die Wertschöpfung von Unternehmen prägen. Damit wird der Umfang an Services zunehmen, die unternehmensspezifisch sind. Dabei sind diese Anforderungen aufgrund ihrer Kritikalität für den Erfolg des Unternehmens schnell zu entwickeln, um Kundenbedürfnisse zeitnah zu befriedigen.  

  • Kundenansprache und -erwartungshaltung: 

Die Individualisierung kommt auch in der besonderen Bedeutung der Anwendungssysteme an der Schnittstelle zu den Kunden zum Ausdruck, sodass auch von „Customer-facing IS“ gesprochen werden könnte. Im Zuge der Digitalisierung hat die IT die Kundeninteraktion immer mehr erreicht. Beispiele wie Car-Sharing-Services, In-Store Retail Apps (Bestandsinformationen in der App, intelligente In-Store-Navigation) oder die Buchung von Parkplätzen und deren direkte Abrechnung über den Autohersteller mögen genügen, um eine andere Art der Kundenbegleitung über die vier Transaktionsphasen (Suche, Vereinbarung, Abschluss, Nachvertrag) zu ermöglichen. Damit reduziert sich der Anspruch an das ERP-System, denn die Kundenansprachen dürften weitaus unternehmensspezifischer ausgestaltet sein. 

Aufgrund der Zunahmen der „Customer-facing IS“ hat sich zugleich in den Unternehmen auch die Anforderung ergeben, dass es nicht mehr die Kunden gibt, sondern letztlich der einzelne Kunde im Sinne eines 1:1-Marketings adressiert werden soll. Es geht um die digitale Kundenrepräsentanz im System, der ein enormer betriebswirtschaftlicher Mehrwert zugesprochen wird. Der Kunde soll als digitaler Zwilling in den Systemen zum Zwecke einer „Customer Analytics IT“ abgebildet werden, um ihm jederzeit die Services und Empfehlungen zuteil werden zu lassen, die aus Sicht des Kunden und des ihn adressierenden Unternehmens empfohlen werden. Somit werden analytische Workloads auch besonders zeitkritisch (im Bereich < 500ms), um beispielsweise im Rahmen von Recommendation-Engines eingesetzt werden zu können. Die klassische BI-Architektur im Kontext von ERP-Systemen wird für diverse Aufgaben damit möglicherweise obsolet. Es dürfte zu einer Reduzierung des BI-Anspruchs und Verlagerung in eigene Lösungen für BI-Services kommen. Außerdem hat der Kunde hohe Erwartungen an die Leistungserfüllung, denn während der Transaktionsphasen wird von den Unternehmen ein Informationsstand erwartet, der niemals Schwachstellen aufweist. Die klassischen Backend-Funktionen betreffen den Kunden und es wird erwartet, dass diese Systeme „at planet scale“ operieren, andernfalls wäre eine unmittelbare Beeinträchtigung der unternehmerischen Leistung aus Sicht des Unternehmens gegeben. Somit werden Zero-Downtime-Anforderungen und andere technische Leistungen direkt aus betriebswirtschaftlichen Herausforderungen abgeleitet. 

  • Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine: 

Es wird eine „Instanziierung der Welt“ prognostiziert, d. h., die Sicht- und Arbeitsweise in Unternehmen wird sich zunehmend an den Objektinstanzen orientieren. In der Vergangenheit wurden diese Objekte als Klassen modelliert und implementiert, während IoT-Szenarien analog zu der zuvor geforderten Repräsentanz des Kunden in einem Applikationssystem ein Instanzenhandling (z. B. Laufschuh einer einzelnen Person) erfordern. Aktuell wird diese betriebswirtschaftliche Anforderung (Definition von Services für den Träger des einen Laufschuhpaares) in IoT-Lösungen umgesetzt, die neben der traditionellen Transaktionslogik eines ERP-Systems steht. Zukünftig sind viel detailliertere, instanzenbezogene Prozesse zu unterstützen und die ERP-Systeme haben auf diese Herausforderung eine Antwort zu geben. 

Die deutlich gestiegenen Digitalisierungsgrade von Unternehmen haben auch zu einer anderen Nähe der IT zum dispositiven Faktor, zum Management, geführt. Es sind weitaus mehr Entscheidungen, die traditionell dem dispositiven Faktor zugeschrieben werden, von Anwendungssystemen wahrzunehmen. Diesen Entscheidungen ist eine sehr hohe Wertschöpfung zu eigen, die besonders kontextabhängig und sehr unternehmensindividuell ist. 

Informationstechnische Leitplanken 

Die bestehenden Applikationslandschaften der Unternehmen sind von einer hohen Zahl technologischer Systeme geprägt. Die Weiterentwicklung der Applikationen folgt im besten Fall einem strukturierten Releaseprozess in den Unternehmen, die sich an den unterschiedlichen Releaseyzklen der Softwarehersteller auszurichten hat. Aufgrund des mit der Produktivsetzung von Releases verbundenen Aufwands hat sich in den Unternehmen die zeitnahe Umsetzung neuer Softwarereleases der Standardsoftwarehersteller verzögert. Für den Standardsoftwarehersteller ist ein so langer Zeitraum enorm kostenaufwendig und zugleich die Weiterentwicklung der Software behindernd, während die Anwendungsunternehmen den Nutzen aus dem produktiven Einsatz eines neuen Releases nicht immer positiv bewerten und daher Lebenszyklen der Software „überspringen“. Aus technologischer Sicht ergeben sich aktuell einige Anforderungen, die auch mit dem Entwicklungszustand der Softwaresysteme zu tun haben. 

Bild 3: Gartners „composable ERP-Approach“ [3].

Das Cloud Computing ist dabei der zentrale Megatrend in der IT-Industrie, der weiterhin die Entwicklung der Software aus Sicht der Hersteller, aber auch der Anwendungsunternehmen treiben wird. Unter Cloud Computing wird hier verstanden, dass es sich um skalierbare, code-basierte On-Demand bereitgestellte Standard-Computing-Ressourcen handelt, die aus einem geteilten Ressourcen-Pool bereitgestellt und nach Verbrauch abgerechnet werden. Dabei sind Cloud-native Applikationen nicht nur Applikationen, die in der Cloud betrieben werden, sondern solche, die unter Beachtung der Eigenschaften von Cloud Computing entworfen werden. Ihre charakteristischen Eigenschaften sind: Container Virtualization and Orchestration, Published API Contracts, Private and Polyglot Persistence, Event Streaming, Infrastructure, Code und Test and Delivery Automation auf Immutable Architecture (Bild 2).

Viele Anwendungen, die heute in der Cloud unter dem Rubrum Cloud Computing betrieben werden, erfüllen nicht die skizzierten Eigenschaften. Hierin besteht für Unternehmen ein enormes Problem, denn nur bei der Existenz der Eigenschaften treten die erhofften Vorteile bei der Entwicklung und Weiterentwicklung der Systeme auf. Es gilt, das Cloud-native Computing vor allem auch als die neue Wertschöpfungskette der IT selbst zu verstehen, die hinsichtlich Zeit und Kosten der Weiterentwicklung für innovative und wettbewerbsorientiert agierende Unternehmen erforderlich ist.  Die Cloud ist in gewisser Hinsicht die Industrialisierung der IT selbst, so wie das Fließband seinerzeit die Massenproduktion von Automobilen eingeleitet hat, wirkt die Cloud für die Erstellung von Softwarelösungen. 

Damit die Vorteile des Cloud-native Computings für die Applikationen zum Tragen kommen, bedarf es einer stärkeren Entkopplung von Anwendungssystemen sowie einer reduzierten Größe der Applikationen selbst. Daher wird für die Entwicklung von unternehmensweiten Standardsystemen als Architekturbasis eine Verstärkung der Microservice-Architektur erwartet, die für einige Komponenten komplexer Enterprise-Systems bereits eingesetzt wird (u. a. bei Shopsystemen etabliert, z. B. Commerce-Tools). Grundsätzlich wird der „composable ERP-Approach“ als Leitmotiv für zukünftige ERP-Systeme prognostiziert [3]. Bei einem solchen Ansatz werden die skizzierten Eigenschaften des Cloud-native Computings (Services und APIs) zum Tragen kommen und es sollen die sogenannten MACH-Prinzipien eingehalten werden (Microservice, API-First, Cloud-native, Headless) [4]. Zusätzlich zu den zuvor entfalteten technischen Eigenschaften wird damit auch die Agnostizität der Backendfunktion zum Frontend-Framework gefordert. Es besteht die Vorstellung, dass es in den Domänen (z. B. Procurement) Lösungen von Softwareherstellern gibt, die um solche angereichert werden, die als Services von Partnern des Herstellers bereitgestellt werden (blaue Fünfecke in Bild 3), i. d. R. Teilnehmer des entsprechenden Ökosystems. Die Lösungen von Herstellern und Partnern können auch um solche von den Kunden angereichert werden (grüne Fünfecke in Bild 3). Die Lösungen der Partner und der Anwendungsunternehmen selbst werden unter Zuhilfenahme des Bereitstellungsmodells Platform-as-a-Service erstellt und nutzen die APIs der jeweiligen Lösungen von Herstellern, Partnern oder auch Kunden. Die Kernfrage, wie groß bzw. klein die einzelnen Komponenten werden können, ohne dass betriebswirtschaftliche Interdependenzen „zerschnitten“ werden, sei in diesem Beitrag nicht erörtert. Es ist aber aufgrund der technologischen Dominanz des Gedankens und seiner Vorteile für die IT-Wertschöpfungskette davon auszugehen, dass sich der Grundgedanke durchsetzt. Die konkrete Ausgestaltung dieser Überlegungen ist aktuell Gegenstand der Forschungsarbeiten des Autors.   

Ausblick 

Die unternehmensweiten Standardanwendungssysteme stehen vor einer bedeutenden Herausforderung, denn die Softwarehersteller müssen vor dem Hintergrund der sich ändernden informationstechnischen Welt und auch der Applikationsrealität in Unternehmen ihre existierenden Systeme fundamental verändern oder es sind komplett neue Systeme zu entwickeln.
Die Welt von Standardsoftware der Vergangenheit wird es nicht mehr geben, es kommt zu einer Redimensionierung des Kerns auf den „Pudels Kern“, in Anlehnung an Goethes Faust. Die oftmals offerierten Optionen, die es bei der Einführung von Standardanwendungssystemen gegeben hat, werden in dieser Form nicht mehr existieren. Es wird die Individualisierungsleistung des Unternehmens eher von dem Ökosystem des Herstellers geleistet werden müssen, als dies im Softwareprodukt selbst veranlagt ist. Die neuen Lösungen werden über APIs bereitgestellt und technische Individualisierungslösungen mithilfe der jeweiligen Plattform und deren Services (PaaS) erstellt.

Literatur:

[1] Schütte, R. (2023): The next Generation of ERP-Systems – Problems of traditional ERP-Systems and the next wave of really standardized ERP-Systems to appear. 

[2] Hoepfner, G. (2021): Interview von Guido Hoepfner zur SAP-Einführung bei ALDI Nord durch Reinhard Schütte, URL: https://moodle.uni-due.de/mod/resource/view.php?id=1210240, Abruf am 10.01.2023 über das Netz der Universität Duisburg-Essen.

[3] Gartner (2020): The Future of ERP Is Composable, URL: https://www.gartner.com/en/documents/3991664, Abruf am 10.12.2022.

[4] Mach (2023): The MACH Alliance, URL: https://machalliance.org, Abruf am 10.01.2023.

Prof. Dr. Reinhard Schütte ist Professor am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und integrierte Informationssysteme an der Universität Duisburg-Essen. Ferner hat er als Vorstand/Geschäftsführer die Einführung mehrerer großer ERP-Einführungen in mittelständischen Unternehmen und Konzernen als Programmmanager verantwortet.

Prof. Dr. Reinhard Schütte
Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und integrierte
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