Gamechanger S/4HANA?
Der funktionale und strategische Impact der Transformation
Cite this article:
Hübner, T.; Beeck, S. (2023): Gamechanger S/4HANA? Der funktionale und strategische Impact der Transformation. DPI Verlag, In ERP Information 3/2023, S. 29–32
Das SAP-Wartungsende für SAP ECC 2027 rückt immer näher. Für viele Organisationen ist dies der Auslöser für die Umstellung von SAP ECC auf SAP S/4HANA. Gleichzeitig sehen einige die Umstellung als Chance für eine Unternehmenstransformation, die weit über eine einfache Systemumstellung hinausgeht. Prozessuale und technische Veränderungen stehen meist im Fokus, jedoch wird oft nicht bedacht: Die Ausprägung der Ziele des S/4HANA-Projektes entscheidet massiv über die strategischen Auswirkungen auf die Organisation. In der Praxis begegnen uns häufig Transformationsziele, die einschneidende strategische Implikationen mit sich bringen. Somit reicht es nicht, die definierten Ziele als selbstverständlich hinzunehmen. Um ihre Umsetzung zu ermöglichen, muss auch der strategische Change, der oftmals größere Teile oder gar die gesamte Organisation betrifft, analysiert und professionell begleitet werden, ohne die funktionalen Veränderungen im System zu vernachlässigen. Im Folgenden wird ein Einblick über die häufigsten Veränderungen in S/4HANA-Projekten in der Praxis gegeben.
Das Erste, worauf viele Organisationen blicken, sind natürlich die notwendigen Veränderungen im SAP-System. Oftmals werden diese Veränderungen als nicht oder kaum beachtenswert eingestuft. „Dann nutzen die User eben eine andere Transaktion“, heißt es dann von Projektverantwortlichen. Was leider übersehen wird, ist, dass viele langjährige SAP-User ihre verwendeten Transaktionen und Funktionen sehr gut kennen und sich in dieser Umgebung sicher fühlen. Wenn ihnen diese sichere Umgebung genommen wird, da sie eine andere Transaktion in der GUI oder gar eine Fiori-App verwenden sollen, werden sich diese User umstellen müssen. Um bei den Usern nicht auf Widerstand zu stoßen, sollten auch diese vermeintlich kleinen Veränderungen im Rahmen des Change Managements begleitet werden.
Funktionaler Impact der S/4HANA-Transformation
Eine der wichtigsten Entscheidungen, oft ein Ergebnis des Vorprojektes, ist die des Umstellungsansatzes. Ob Brownfield, Greenfield oder die sogenannte „Selective Data Transition“ – die Entscheidung darüber, wie die Umstellung von SAP ECC zu SAP S/4HANA stattfinden soll – hat einen fundamentalen Einfluss darauf, wie stark der Grad der Veränderung auf die betroffenen User ist.
- Brownfield: Bei diesem Ansatz bleibt das aktuell genutzte System bestehen. Es findet lediglich eine Conversion, also ein Systemupdate von ECC zu S/4HANA statt. Das bedeutet, dass User oftmals weiterhin wie gewohnt auf das System zugreifen können, ihre Einstellungen bestehen bleiben und sie weiterhin alle Daten nutzen können, die auch vor der Umstellung zur Verfügung standen.
- Greenfield und Selective Data Transition: Folgt das Transformationsprogramm einem dieser beiden Ansätze, so wird ein neues SAP-System aufgebaut. Der Unterschied zwischen den zwei Ansätzen liegt darin, wie sehr das neue System auf alten Strukturen aufsetzt und wie viele Daten aus dem alten in das neue System migriert werden. Für die User bedeutet dies, dass ihre Systemeinstellungen verworfen werden und sie nur noch auf Daten aus einem bestimmten Zeitraum zugreifen können (z. B. die letzten zwei Jahre). Oftmals verwenden Unternehmen das alte SAP-System in einer „nur-lesen“-Funktion als Archiv für Daten, welche nicht in das neue System übertragen werden.
Wie viele und welche Änderungen es durch die Umstellung von SAP ECC zu SAP S/4HANA tatsächlich gibt, hängt stark von den genutzten SAP-Modulen und Funktionen ab. Dabei ist es wichtig zu betrachten, welche Neuerungen in SAP ECC über die Jahre eingeführt wurden. Nichtsdestotrotz gibt es Themen, mit denen sich das Transformationsprogramm bei der S/4HANA-Umstellung auf jeden Fall beschäftigen muss.
Bild 1: Unterschied zwischen funktionalem und strategischem Impact.
SAP-Geschäftspartner: Bisher wurden Geschäftspartnerdaten (z. B. von Kunden und Lieferanten) in verschiedenen SAP-Modulen und Tabellen gespeichert, was häufig zu Dateninkonsistenzen und redundanter Pflege führte. Mit der Einführung des SAP-Geschäftspartners werden diese Daten nun in einer zentralen Datenbank angelegt, gepflegt und abgerufen. Die Organisation muss sich die Frage stellen, wie sie zukünftig mit diesen Stammdaten umgehen möchte. Hierfür wählen einige Organisationen einen zentralen Ansatz, bei dem die Anlage neuer oder Änderungen an bestehenden Geschäftspartnerdaten über eine dedizierte, zentrale Stelle erfolgt, um so Duplikate und fehlerhafte Eingaben zu vermeiden. Dies bedeutet in vielen Fällen eine organisationale Veränderung. Je nachdem wie die Pflege von Geschäftspartnerdaten erfolgen soll, müssen User zudem entweder darin geschult werden, dem neuen, zentralen Prozess zu folgen oder selbst lernen, mit der SAP-Geschäftspartnerstruktur umzugehen.
Universal Journal: Das Universal Journal ist eine neue Struktur für die Finanz- und Buchhaltungsprozesse und ersetzt die früheren Einzeljournale in SAP ECC. Es kombiniert alle Geschäftsvorfälle in einer einzigen, universellen Datenbanktabelle. Um sicherzustellen, dass alle relevanten Daten aufgenommen und die richtigen Berichte erstellt werden können, sind daher oft Änderungen an den Prozessen erforderlich. Folglich müssen User – oft auch außerhalb Finanzen und Controlling – verstehen, wie sie künftig mit dem Universal Journal umgehen und ihre Geschäftsvorfälle und Buchungen auf die neue Struktur anpassen können.
Abschalten obsoleter Transaktionen: Insgesamt können durch die Einführung von SAP S/4HANA Hunderte oder sogar Tausende Transaktionen obsolet werden. Die genaue Anzahl hängt von verschiedenen Faktoren (z. B. verwendete Module) ab. Daher ist es wichtig, eine gründliche Analyse durchzuführen, um die genauen Auswirkungen der S/4HANA-Einführung auf die Transaktionen zu bestimmen. Ein Beispiel hierfür ist das Thema „Materialbewegung“ bei dem 18 sogenannte MB-Transaktionen durch die MIGO-Transaktion ersetzt werden. Diese Veränderungen wirken auf den ersten Blick harmlos. Für SAP-User, die seit vielen Jahren mit diesen Transaktionen täglich arbeiten, kann dies jedoch eine sehr unangenehme Veränderung bedeuten und mit einem Produktivitätsverlust in der Übergangsphase einhergehen. Daher ist es aus Change-Management-Sicht wichtig, nicht nur die Perspektive der Organisation, sondern auch die der betroffenen User einzunehmen, um diese bestmöglich auf die Veränderungen vorzubereiten.
Bild 2: Überblick funktionaler Impact.
Weitere funktionale Veränderungen: Über diese „Pflichtthemen“ hinaus können sich je nach Umstellungsansatz, Aktualität des Systems und anderen Faktoren weitere Veränderungen ergeben. Hier zwei Beispiele:
- Bei Brownfield SAP-Projekten beobachten wir, dass viele Organisationen zunächst das neue Hauptbuch und die neue Anlagenbuchhaltung einführen, um sich für das Universal Journal vorzubereiten. Dies ist oft schon vor der eigentlichen SAP-Umstellung ein eigenes umfangreiches Change-Projekt.
- Die Komplexität des SAP-Systems nimmt in vielen Organisationen über die Jahrzehnte durch Eigenentwicklungen (z. B. Z-Transaktionen) stark zu. Diese Eigenentwicklungen führen einerseits zu hohen Wartungsaufwänden und stellen andererseits ein Hindernis für einen einheitlichen Prozessstandard dar. Viele Organisationen zielen daher darauf ab, sich wieder näher an den SAP-Standard zu bewegen und Eigenentwicklungen im System abzuschalten. Da SAP-User die oft auf sie zugeschnittenen Eigenentwicklungen im Laufe der Zeit liebgewonnen haben, ist es besonders wichtig, diese zu begleiten, ihre Sorgen ernst zu nehmen und die Vorteile des „Back-to-Standard“-Vorgehens aufzuzeigen.
Strategischer Impact der S/4HANA-Transformation
Oft gehen mit den funktionalen Veränderungen auch Transformationsziele einher, die implizit strategische Herausforderungen mit sich bringen und eine gezielte Veränderungsbegleitung und -steuerung erfordern.
Eine der größten Herausforderungen ist die Einführung einer wirksamen Prozessorganisation, um dem Transformationsziel der globalen Standardisierung von Prozessen gerecht zu werden. Dies führt oft zu einer massiven Veränderung in Unternehmen und gibt somit Anlass zu Unsicherheit und Widerständen in den Fachbereichen. Denn bevor Prozesse überarbeitet werden können, müssen Verantwortliche definiert werden. Es gilt, klare Strukturen und Rollen zu schaffen, um End-to-End-Prozessverantwortliche auf allen Ebenen zu etablieren und Prozesssilos zu vermeiden. Dabei ist es wichtig, klare Regeln und wirksame Entscheidungskompetenzen hinsichtlich der Harmonisierung festzulegen. Sponsoren haben eine zentrale und erfolgskritische Rolle, da sie die Legitimierung für die Rollen und deren Entscheidungskompetenzen in die Organisation – insbesondere auch in kleine unabhängige „Fürstentümer“ der Organisation – tragen müssen. Erst dann kann eine erfolgreiche Ableitung der Soll-Prozesse Ende-zu-Ende erfolgen. Dringlichkeit zu erzeugen, Akzeptanz für die veränderte Herangehensweise zu schaffen und den Wandel auf oberster Ebene zu treiben, sind daher zentrale Erfolgsfaktoren zur ernsthaften Erreichung der strategischen Transformationsziele. Die Implementierung einer Prozessorganisation ist ein echter Kraftakt für die meisten Organisationen und so sollte diese auch behandelt werden.
Eine weitere nicht seltene Herausforderung stellt die oftmals notwendige Neupositionierung der IT dar. Wenn das Transformationszielbild die unternehmensweite Standardisierung von Prozessen und IT beinhaltet, muss sich auch die Unternehmens-IT weg von der „bedingungslosen Dienstleisterrolle“ hin zum „selbstbewussten Gatekeeper“ für die Einhaltung von Prozess- und IT-Standards emanzipieren. Allerdings ist ein Mindset-Shift bei IT und Fachbereichen notwendig, um eine erfolgreiche Umsetzung sicherzustellen. Es empfiehlt sich nicht nur die eigene Aufstellung in Bezug auf Ziele und Visionen auf allen Ebenen der IT, sondern auch auf das IT-Serviceportfolio neu zu denken. Oft handeln die Verantwortlichen historisch bedingt nach tief verankerten Glaubenssätzen, die für die Neuausrichtung der IT hinderlich sein können. Diese gilt es zu identifizieren und neu einzuordnen. Neben der oft notwendigen Kulturarbeit bedarf es auch der strukturellen Klarheit über zukünftige Genehmigungsprozesse und Entscheidungskompetenzen sowie – wenn die Transformation ernst gemeint ist – einer echten Unterstützung und Legitimierung durch Fachbereichssponsoren und Verbündete im Top Management. Denn genau hier muss der Mindset-Change beginnen.
Kulturfaktor „Datentransparenz“: Eine zusätzliche Herausforderung strategischer Art, die oft nicht direkt offensichtlich wird, aber in erster Linie mit einer Veränderung in der Unternehmenskultur einhergeht, ist die erhöhte Verfügbarkeit und der neue Umgang mit Unternehmensdaten. Mit S/4HANA zielen viele Unternehmen auf eine stärkere Vernetzung von Daten, um neue Erkenntnisse über das eigene Geschäft, Produkte, Services und den Markt zu gewinnen. Die Transformation ermöglicht somit eine erhöhte Datentransparenz über die Unternehmensbereiche hinweg. Doch der erleichterte Zugriff auf Daten innerhalb der Organisation birgt auch Herausforderungen. Mitarbeitende und Führungskräfte entwickeln Widerstände, da sie befürchten, dass ihre Daten von Dritten eingesehen werden können. Führungskräfte sind besorgt, dass die erhöhte Transparenz zu einem Verlust der eigenen Machtposition führen kann. Um dem zu begegnen, müssen die Vorteile und Notwendigkeit der Datentransparenz hervorgehoben werden. Gleichzeitig müssen die Sorgen der Betroffenen ernst genommen und klare Grenzen bezüglich der Datentransparenz aufgezeigt werden. Führungskräfte und Sponsoren, aber auch Mitarbeitende stehen hier im Fokus. Ein offener Dialog mit allen Betroffenen ist notwendig, um Unsicherheiten abzubauen und Akzeptanz für die „neue Datenkultur“ zu schaffen.
Bild 3: Überblick strategischer Impact.
Zu guter Letzt werden oft mit der S/4HANA-Transformation Innovationen und neue technologische Möglichkeiten (wie z. B. AI, Embedded Analytics etc.) angepriesen. Dies ist ein erklärtes Ziel, das in einem frühen Stadium mit dem Top Management abgestimmt wird. Jedoch fehlen in der Praxis oft die echte Bereitschaft und die Ressourcen, Innovationen umzusetzen. Wenn etwas im S/4HANA-Projekt knapp ist, dann sind das ausreichend Zeit und fähige Ressourcen, die neue Funktionen und zukunftsgerichtete Innovationen für die Organisation bewerten und umsetzen können. Somit ist es ratsam, sicherzustellen, dass im Top Management echtes Commitment vorhanden ist, notwendige Ressourcen aus dem Fachbereich zur Verfügung zu stellen. Dies bedeutet auch, dass die Transformation gegenüber anderen strategischen Vorhaben und Projekten priorisiert werden muss. In der Realität von S/4HANA-Projekten hingegen werden leider häufig zu Beginn eines Projektes visionäre Ziele aufgezeigt, die dann im Laufe des Projektes mangels Ressourcen oder auch aufgrund von Widerständen „verschwimmen“ oder ganz gestrichen werden. Es gilt somit von Beginn an, eine klare, aber auch realistische Vision zu entwickeln, Ziele explizit abzustimmen und das Commitment einzuholen, um damit die Erwartungen zu steuern. Ein gutes Erwartungsmanagement und eine realistische Planung, was ein erstes Basis-Release und ein später geplantes Innovationsrelease leisten können, sind das Fundament, um Enttäuschungen beim Go-live zu vermeiden.
Fazit
Der Gamechanger „S/4HANA“ kann eine Organisation weit über das IT-System hinaus beeinflussen. Dabei sollte weder der funktionale noch der strategische Einfluss, den diese Umstellung haben kann, vernachlässigt werden, um eine reibungslose Arbeit ab Nutzungsbeginn sicherzustellen.
Doch wie wird gewährleistet, dass all diese Auswirkungen erfolgreich begleitet werden? Hier kommt das Change Management ins Spiel. Mit einem strukturierten und gezielten Change-Management-Ansatz wird sichergestellt, dass auch die nicht direkt offensichtlichen Herausforderungen identifiziert werden und damit die Veränderung nicht nur erfolgreich installiert, sondern auch langfristig in der Organisation implementiert wird. Eine klare Vision, ein strategisches Zielbild und Transparenz über die Auswirkungen sind dabei entscheidend, um den Transformationsprozess bestmöglich an die Anforderungen der Organisation anzupassen. Durch das Einbeziehen und die Vorbereitung der betroffenen Mitarbeitenden und Führungskräfte auf Veränderungen funktionaler, aber auch strategischer Art, können Widerstände und negative Auswirkungen minimiert und ein unterstützendes Umfeld für die Transformation geschaffen werden. Dies führt nicht nur zu einem erfolgreichen Projektabschluss, sondern auch zu einem langfristigen Erfolg der Transformation und somit zu einem nachhaltigen Wettbewerbsvorteil für die Organisation.
Tobias Hübner ist Senior Manager bei CPC Unternehmensmanagement AG und hat mehr als 13 Jahre Projekterfahrung im Change Management. Seit 2019 berät er Unternehmen bei der Implementierung von SAP S/4HANA und leitet das Center of Competence „SAP S/4HANA Change Management“.
Sebastian Beeck ist Senior Consultant bei CPC Unternehmensmanagement AG und auf S/4HANA Change Management spezialisiert. Er ist Gründungsmitglied des Center of Competence „SAP S/4HANA Change Management“ und war maßgeblich an der Entwicklung des praxiserprobten Change-Frameworks „CH/4NGE“ beteiligt.
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