19. Juni 2024

9 Mythen über die ERP-Auswahl

Es gibt zahlreiche Fachbeiträge, die sich mit der Fragestellung befassen, weshalb ERP-Einführungsprojekte scheitern. Jedoch steht die Phase vor der Einführung – die ERP-Auswahlphase – dabei weniger im Fokus. Das soll dieser Beitrag ändern. Als ERP-Beratung sind wir konfrontiert mit den gängigsten Mythen rund um die ERP-Auswahl, die durch die IT-Welt geistern. Mit diesen Mythen räumen wir heute auf. 

Mythos 1: Die ERP-Auswahl ist ein IT-Projekt und kein Organisationsprojekt

Regelmäßig schauen wir als Berater in fragende Gesichter, wenn wir die Geschäftsführung im Rahmen eines Erstgesprächs nach ihren strategischen Zielen befragen, die mit einem ERP-Projekt verfolgt werden. Denn ein ERP-Projekt umfasst neben allen IT-Aspekten auch viele organisatorische Fragestellungen, die berücksichtigt werden müssen. Ein Beispiel: Plant das Unternehmen in den nächsten Jahren die Expansion ins Ausland, ist dies ein relevanter Fakt, den das Unternehmen bei der ERP-Auswahl berücksichtigen sollte. Dabei geht es nicht nur um Sprachfunktionen des Systems, sondern vielmehr um z. B. gesetzliche Regularien, die je nach Branche berücksichtigt werden müssen. Berücksichtigt das Unternehmen die Expansion bei der ERP-Auswahl nicht und wählt einen Anbieter, der keinerlei Erfahrung mit dem Zielland hat, führt dies unter Umständen zu Problemen. Ein zweites Beispiel sind Veränderungen im Geschäftsmodell. Plant ein produzierendes Unternehmen neue Produkte in anderen Fertigungsweisen herzustellen oder in das Vermietungsgeschäft einzusteigen, sind dies völlig andere Anforderungen an ein ERP-System. Diese zwei Beispiele zeigen, wie wichtig unternehmensstrategische- sowie organisatorische Fragestellungen für das ERP-Auswahlprojekt sind. 

Mythos 2: Für unser Unternehmen gibt es keine passende ERP-Lösung

Diesem Mythos begegnen wir insbesondere bei Unternehmen, die aktuell eine selbstentwickelte Lösung im Einsatz haben. Natürlich gibt es Unternehmen, bei denen die Anforderungen aufgrund gesetzlicher Vorgaben und/oder eines Wettbewerbsvorteils so individuell sind, dass ein passendes ERP-System durch Anpassungsprogrammierung verbogen werden müsste, um die Prozesse abzubilden. Hier kann eine selbstentwickelte Lösung sinnvoll sein. 

Jedoch ist es in den meisten Fällen so, dass bei der Anforderungsaufnahme auf die Ist-Prozesse geschaut wird. Nicht immer entsprechen die Abläufe den Abläufen in einer Standardsoftware. Das Unternehmen (und die Mitarbeitenden) müssten sich hier an neue oder veränderte Prozesse anpassen. Dieser Schritt schreckt viele ab und so kommt ganz schnell das Argument auf, es gäbe keine passende ERP-Lösung. Allerdings sollten Unternehmen diese Bewertung erst vornehmen, nachdem sie sich ein vollständiges Bild der Anforderungen und dem Markt gemacht haben. Für die Entscheidungsfindung hilft es zudem, sich die Vor- und Nachteile von Standardsoftware noch einmal anzuschauen.

Mythos 3: Die ERP-Auswahl übernimmt doch die IT-Abteilung, die Fachabteilung wird bei der Auswahl nicht gebraucht

Wenn es um das Thema Softwareauswahl geht, wandert der Blick schnell in Richtung IT-Abteilung. Insbesondere bei Unternehmen, die bisher eine selbstentwickelte Lösung im Einsatz haben, liegt in der IT-Abteilung einiges an Wissen zu Softwarelogiken und Datenstrukturen. Das Problem hierbei: Die IT-Abteilung hat in der Regel keinen detaillierten Einblick in die tatsächlichen Arbeitsprozesse der Fachabteilungen und der übergreifenden Prozesse. Genau dieses Wissen ist jedoch notwendig, um Anforderungen an eine neue ERP-Lösung zu formulieren und auch eigene Geschäftsprozesse kritisch zu hinterfragen. Die Anwender arbeiten tagtäglich mit der Software und sollten daher auch die Anforderungen an diese stellen und eine aktive Rolle im ERP-Auswahlprojekt übernehmen. Werden zukünftige Nutzer nicht mit in den Prozess involviert, kann das zu Frust führen. Es entsteht das Gefühl, „eine Lösung vorgesetzt zu bekommen”.

Trotz allem ist die IT-Abteilung stark in die ERP-Einführung involviert. Sie ist für den Projekterfolg sogar unverzichtbar, denn ein ERP-System ist immer noch ein digitales Produkt. Die Fachabteilungen wissen meist nicht, wie ihre Prozesse ERP-seitig genau umgesetzt sind. Die Technik hinter der ERP-Software ist ihnen fremd. Dieses Verständnis aufzubauen ist Aufgabe der IT-Abteilung. Daher sollte von Anfang an, auch schon in der ERP-Auswahl, ein Mitglied der IT-Abteilung beteiligt sein (wenn auch nicht unbedingt in der Rolle der Projektleitung). Je mehr die IT über die Abläufe der restlichen Organisation weiß, desto leichter fällt es, Prozessänderungen später technisch umzusetzen oder Fehler zu analysieren.

Mythos 4: Durch ein detailliertes Lastenheft reduzieren wir das Risiko, dass das Projekt scheitert

Die zentrale Aufgabe eines Lasten- und Pflichtenheftes ist die Dokumentation und der damit verbundene Anspruch auf vollständige Erfüllung der verhandelten Inhalte. Somit sichern sich sowohl Kunde als auch ERP-Anbieter im angegebenen Leistungsumfang ab. Daher ist der sicherlich größte Vorteil von Lasten- und Pflichtenheften, dass die Ziele und der Umfang des Projektes klar definiert werden. Ein Lasten- bzw. Pflichtenheft gewährleistet Planungssicherheit sowohl beim Auftraggeber als auch beim Auftragnehmer und gibt dem Auftragnehmer die Möglichkeit, die Einführungskosten einer Software valide zu kalkulieren und spiegelt die Vorstellungen des Auftraggebers über den erwarteten Softwareumfang wider.

Im Gegenzug schränkt dieser Leistungsumfang jedoch auch ein. Ein Beispiel hierzu: Unsere Kunden haben häufig Geschäftsprozesse, die seit Jahren im Unternehmen etabliert sind und einer Effizienzsteigerung bedürfen. Die Erarbeitung neuer Prozesse ist eine Kombination aus der Nutzung von ERP-Standardfunktionen und der Etablierung neuer interner Abläufe. Wurden jedoch bereits vor dem ERP-Einführungsprozess Lasten und Pflichten festgehalten, entsteht nun die Herausforderung, Anpassungen am Lastenheft vorzunehmen. Eine flexible Lösungsfindung im Projekt ist somit möglich, aber mit viel Aufwand verbunden. Daher sollte der Kunde idealerweise von Beginn an sicherstellen, den kompletten, bis ins Detail beschriebenen Leistungsumfang zu kennen und zu formulieren. Was zunächst einfach scheint, stellt sich dann als schwierig heraus. Denn ob ein Prozess für ein Unternehmen und die Mitarbeitenden mit dem neuen ERP-System gut funktioniert, wird erst sichtbar, wenn es ausprobiert wurde. 

Mythos 5: Je mehr ERP-Anbieter zur Präsentation eingeladen werden,desto besser kann eine Entscheidung getroffen werden

Leider ist dem nicht so. Wir haben mit Unternehmen gesprochen, die zu uns kamen, nachdem sie 10 Anbieter zu sich eingeladen hatten und immer noch unsicher waren, eine Entscheidung zu treffen. Warum ist das so? Werden Anbieter zu einer Präsentation eingeladen, zeigen sie in der Regel eine Standardpräsentation. Präsentiert einige Tage später ein zweiter Anbieter, ist diese Präsentation mit der ersten natürlich nicht vergleichbar. Die Unsicherheit wächst und so geht es immer weiter. Spätestens nach der dritten oder vierten Präsentation wissen die Projektverantwortlichen nicht mehr, was eigentlich in der ersten Präsentation positiv/negativ war. Daher raten wir unseren Kunden, sich maximal zwei bis drei Systeme innerhalb eines kurzen Zeitraums anzuschauen. Zudem sollte jede Präsentation identisch ablaufen, sodass die Möglichkeit einer Vergleichbarkeit entsteht. Am besten gelingt das mithilfe von Szenarien, die durch die vorgegebenen Prozesse im System gezeigt werden müssen. 

Wie erhalten Unternehmen die Shortlist von maximal zwei bis drei Anbietern? Indem sie im Vorfeld ungeeignete Anbieter aussortieren. Hierzu empfiehlt es sich, einen Anforderungskatalog aufzustellen (Achtung: Beschränkung auf wesentliche geschäftskritische Funktionen) und mit potenziellen Anbietern darüber zu sprechen. Das Unternehmen sollte sich zudem Gedanken machen, welche Kriterien der ERP-Anbieter zusätzlich erfüllen sollte. Das kann von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich sein. So ist es für einige Unternehmen wichtig, die Software beim Anbieter zu hosten, während andere weder mieten noch kaufen wollen, sondern sich einen lokalen Partner suchen. Über die Besprechung der Anforderungen und die eigenen individuellen Entscheidungskriterien kann die Anzahl der infrage kommenden Anbieter sukzessive reduziert werden. Zur Anbieterpräsentation werden dann nur die drei bis vier Favoriten eingeladen. 

Mythos 6: SAP & Microsoft bieten die besten ERP-Lösungen auf dem Markt an

Oft erreichen uns Anfragen zur Begleitung von ERP-Auswahlprojekten mit dem Nebensatz, es soll eine Microsoft- und/oder SAP-Lösung ausgewählt werden. In Deutschland gibt es mehrere Hundert Anbieter von ERP-Lösungen. Es drängt sich also die Frage auf, wie der Kunde die Einschätzung getroffen hat, dass es sich bei diesen beiden Anbietern um die geeignetsten handelt. Damit wäre ein wesentliches Ergebnis eines ERP-Auswahlprojektes vorweggenommen. Natürlich sind SAP und Microsoft durchaus geeignete Systeme und durch die Vielzahl an Branchenlösungen und spezialisierten Partnern auch in nahezu jeder unserer Auswahlprojekte enthalten. Dennoch sind sie nicht per se die besten Lösungen für die Kundenbedarfe. Woher dieser Mythos stammt, wissen wir nicht. Festzuhalten ist: Es ist wichtig zu beachten, dass die „beste“ ERP-Lösung für eine Organisation von verschiedenen Faktoren wie Branche, Größe, Budget, technologische Präferenzen und Geschäftszielen abhängt. Gerade in Deutschland sollten wir den vielen leistungsstarken Systemen eine Chance in der ERP-Auswahl geben.

Mythos 7: Eine ERP-Auswahl ist in einem Monat erledigt

Dass eine ERP-Auswahl mitunter ein zeitintensiver Prozess sein kann, ist vielen Entscheidungsträgern nicht bewusst. Eine so enorme Investitionsentscheidung wie ein neues ERP-System auszuwählen, wird in der Regel nicht von heute auf morgen getroffen und schon gar nicht, indem nur ein System angeschaut wird. Bei einem mittelständischen Unternehmen gehen wir davon aus, dass sich ein ERP-Auswahlprozess über drei bis sechs Monate hinziehen kann. Wenn wir diesen Zeitraum benennen, schauen wir oft in erstaunte Gesichter: „Was dauert daran so lange?“ Die Antwort ist einfach. In einer strukturierten ERP-Auswahl werden verschiedene Phasen durchlaufen:

  • Prozesse analysieren und Anforderungen erheben
  • Marktrecherche durchführen und Anforderungen mit dem Anbieter besprechen
  • Anbieterpräsentationen durchführen
  • Ggf. weitere risikoreduzierende Maßnahmen wie Referenzbesuche und/oder Prozessworkshops durchführen
  • Vertragsdiskussionen führen

In jeder dieser Phasen bedarf es der Abstimmung zwischen verschiedenen Parteien. In der ersten Phase der Anforderungsanalyse werden Prozesse besprochen und die daraus entstandenen Anforderungen evaluiert. Diese Phase kann schon drei bis vier Wochen in Anspruch nehmen, je nachdem wie sich die Verfügbarkeiten im Beratungshaus sowie beim Kunden gestalten und ob Einzelgespräche oder Gruppenworkshops durchgeführt werden. Kommen Feiertage, Ferienzeiten oder saisonale Abhängigkeiten hinzu, kann sich der Zeitraum noch länger hinziehen. Auch die Phase der Vertragsverhandlungen sollte hier nicht unterschätzt werden. 

Mythos 8: Change Management wird frühestens in der ERP-Einführung benötigt

So, so. Das ERP-System wurde also ohne die späteren Nutzer der Fachabteilungen ausgewählt und nun wird erwartet, dass alle Mitarbeitenden das „vorgesetzte“ System gut finden. Veränderungsprozesse beginnen also erst, wenn ein Projektleiter den Startschuss dazu gibt? Fehlanzeige. Ab dem Moment, in dem das Unternehmen entscheidet, eine neue Software einzuführen, findet Veränderung statt – selbst wenn es anfangs nur eine kleine Gruppe an Mitarbeitenden betrifft. Denn bereits in der Auswahl- und Vorbereitungsphase sollten wesentliche Stakeholder bereits identifiziert und einbezogen werden, um frühzeitig ihre Bedenken und Perspektiven zu verstehen. Eine gemeinsame Verständigung z. B. über Projektziele und Erfolgsfaktoren fördert die Akzeptanz und Unterstützung für das Projekt und reduziert potenzielle Widerstände. Zudem sollte diese Phase genutzt werden, um den Status quo der Unternehmenskultur und Veränderungsbereitschaft der Organisation zu messen, um Bereiche mit dem größten Betreuungsbedarf sowie eine Priorisierung der Change-Management-Maßnahmen zu planen. Die Entwicklung von Kommunikationsstrategien, um die richtige (interne) Zielgruppe mit der richtigen Message zu erreichen, ist ebenfalls Teil der Vorbereitungsphase. Change Management sollte so früh wie möglich starten, um auf allen Ebenen ein gemeinsames Verständnis für die Situation zu schaffen, Erwartungen zu klären und Vertrauen aufzubauen.

Mythos 9: Externe Beratung ist in der ERP-Auswahlphase nicht notwendig

Wie die vorangegangenen Mythen bereits gezeigt haben, ist eine ERP-Auswahl ein hoch strategisches Projekt. Ein neues ERP-System begleitet ein Unternehmen im Idealfall die nächsten zehn bis zwanzig Jahre und ist die Basis für einen Großteil der geschäftskritischen Prozesse im Unternehmen. Für jegliche Art von Strategieprojekten werden Berater angeheuert. In Gesprächen zum Thema ERP-Auswahl hören wir oft: „Wir brauchen keine Beratung, das machen wir allein“. Aus unserer Erfahrung heraus werden dann viele Auswahlprojekte abgebrochen. Einer der häufigsten Gründe ist die fehlende Entscheidungsfindung oder der eine oder andere bereits benannte Mythos. Die Ursache liegt oft in einem unstrukturiertem Auswahlprozess und/oder fehlenden Entscheidungskriterien. Eine externe Beratung kann hier Nutzen stiften und mit einem etablierten Vorgehen und Fachkenntnis bei der Entscheidungsfindung helfen. 

Dipl.-Kffr. Corinna Friebel-Fohrholz ist Inhaberin und Geschäftsführerin der Glasholz GmbH. Sie hilft mittelständischen Unternehmen bei der Softwareauswahl und -einführung sowie bei der Erstellung einer passenden IT-Strategie. Dabei bringt sie umfassende Kenntnisse über den Softwaremarkt (insb. ERP, CRM, DMS, MES) für diverse Branchen mit. 

Corinna Friebel-Fohrholz
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