Kontextwissen als Voraussetzung für den Umgang mit ERP-Systemen
Judith Neumer und Annegret Bolte
Lesen Sie:
- welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Beschäftigte beim Umgang mit ERP-Systemen aufgaben- und situationsbezogen handlungsfähig sind
- weshalb Beschäftigte gerade bei zunehmender Vernetzung ein gegenstands- und kooperationsbezogenes Kontextwissen benötigen, das über die eigene Arbeit hinausreicht
Dieser Artikel zeigt anhand von Beispielen, dass ERP-Daten in der betrieblichen Praxis nicht immer den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Solche Abweichungen erfordern ein aktives Eingreifen der Beschäftigten, das jedoch nur dann erfolgreich ist, wenn sie über erfahrungsbasiertes Kontextwissen verfügen. Dieses Wissen umfasst sowohl eine gegenstandsbezogene als auch eine kooperationsbezogene Dimension. Es ist ein praktisches, auf Erfahrungen beruhendes Wissen über betriebliche Kontexte, aber auch über Kooperationen, die zur Erfüllung der eigenen Aufgaben notwendig sind. Es kann in keinem Handbuch festgehalten, sondern nur im praktischen Handeln erworben und situativ aktualisiert werden.
ERP-Systeme sollten immer darauf ausgerichtet sein, einen optimalen Workflow zu erreichen, in dem eindeutig ist, wer was, wann und warum an welcher Stelle im Arbeitsprozess beisteuern muss. Wesentlich ist es, Abläufe nicht nur aus der Abteilungs- und Bereichsperspektive zu betrachten, sondern als Gesamtprozesse, die das gesamte Unternehmen durchziehen. Für die Beschäftigten bedeutet dies, dass ihre eigene Arbeit immer im Kontext von Informationen, Handlungen und Entscheidungen aus anderen Arbeitsbereichen steht. Um unter diesen Bedingungen weiterhin handlungsfähig bleiben zu können, benötigen sie mehr denn je ein Kontext- und Überblickswissen [1] über betriebliche Abläufe und Zuständigkeiten, aber auch über Konsequenzen ihres Handelns für andere Personen und Bereiche.
Die empirische Basis für diesen Beitrag bilden Untersuchungen in zwei mittelständischen produzierenden Unternehmen. Es wurden 29 qualitative Interviews mit Beschäftigten aus verschiedenen Bereichen und über alle vorhandenen Hierarchiestufen hinweg geführt: in Fertigung, Vertrieb, Einkauf, Produktionsplanung, Arbeitsvorbereitung, Logistik, Konstruktion, Service, IT und Personal. Zentrales Ergebnis ist: Beschäftigte sind im Umgang mit ERP-Systemen mit Herausforderungen konfrontiert, auf die sie kreativ und flexibel reagieren müssen.
Der kreative Umgang mit dem ERP-System als Schlüssel und Notwendigkeit
Auf den ersten Blick erscheint es so, als müssten die Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz „nur“ die benötigten Daten erfassen. Allerdings zeigt die Praxis, dass es so einfach nicht ist. Selbst dann, wenn ein ERP-System sehr gut an die betrieblichen Belange angepasst ist, wird es immer wieder Situationen geben, in denen die Beschäftigten mit den systemimmanenten Grenzen dieser digitalen Technik konfrontiert werden.
Dies zeugt nicht per se von einer Dysfunktionalität der Technik, sondern ist darin begründet, dass digitale Technik immer von den physischen Begebenheiten abstrahieren muss und entsprechend ein Matching physischer und digitaler Anforderungen oftmals nicht vollständig oder nicht ohne zusätzliche Aufwände funktioniert. Das betrifft zum Beispiel die Qualität der Daten: Es kann zu Abweichungen zwischen Systemdaten und tatsächlichen Zuständen und Zusammenhängen kommen: Entweder werden Daten fehlerhaft erfasst oder sie können gar nicht erfasst werden [2]. Solche Situationen treten beispielsweise bei kurzfristigen Lieferänderungen auf.
In jedem Fall erfordern derartige „Lücken“ ein aktives Eingreifen der Beschäftigten: Im System vorgesehene Schritte müssen ausgelassen, umgangen oder in anderer Reihenfolge ausgeführt werden; Daten müssen an einer Stelle aufwendig generiert werden, die das System an anderer Stelle eigentlich bereithält; Daten, die das System fordert, die aber nicht vorhanden sind, müssen simuliert werden etc. Die Beschäftigten sprechen hier von Workarounds (etwa „Umgehungslösungen“), die sie erzeugen müssen, um die Erfordernisse des digitalen Systems und des physischen Produktionsablaufs gleichzeitig bedienen zu können. Sie arbeiten also nicht nur mit dem System, sondern sind immer wieder auch gezwungen, gegen das System zu arbeiten, es gleichsam „auszutricksen“. Im Folgenden werden hierfür empirische Beispiele aus den von uns untersuchten Unternehmen angeführt.
Der Umgang mit ungenauen Daten
In einem der untersuchten Unternehmen können bestimmte Kalkulationsgrundlagen nicht exakt bestimmt werden: Für die hergestellten Produkte werden Materialien verwendet, die in unterschiedlichen Maßen aus dem Rohmaterial herausgeschnitten werden. Dabei gibt es immer eine bestimmte Menge an Verschnitt, d. h. an Material, das sich aufgrund seiner zu geringen Größe nicht mehr für die Produktion verwenden lässt. Im Warenwirtschaftssystem tauchen diese Verschnittmengen aber weiterhin als vorhandenes Rohmaterial auf. Dies führt immer wieder dazu, dass aufgelistetes Rohmaterial de facto nicht vorhanden bzw. für die Produktion nicht nutzbar ist. Wie groß der Verschnitt tatsächlich sein wird, ist nicht vorhersehbar. Man kann zwar mit groben Schätzwerten kalkulieren, aber diese Werte werden bei einer Einzelteilfertigung je nach realisierten Aufträgen von den tatsächlichen Werten abweichen. Hier müssen die im System vorhandenen immer wieder mit den tatsächlich verfügbaren Beständen abgeglichen werden und die Einkaufenden müssen vorausschauend mehr Material bestellen, als tatsächlich verbraucht wird.
Absichtlich hergestellte Abweichungen
Eine Differenz zwischen der physischen Realität und der systemtechnischen Abbildung kann von den Beschäftigten auch mit voller Absicht hergestellt werden, um beispielsweise einen Auftrag trotz Zeitknappheit termingerecht ausliefern zu können. Falls sich die Fertigung der Ware verzögert, sie aber auf jeden Fall mit auf den bald losfahrenden LKW geladen werden soll, müssen die Beschäftigten jenseits der systemseitigen Vorgaben einen Weg – ein Workaround – finden, damit die Ware trotzdem ausgeliefert werden kann: So vermelden die Beschäftigten aus der Fertigung eines Unternehmens bei besonders eiligen Aufträgen diese Waren – auf Bitten der Logistik – schon als fertig produziert, obwohl der Auftrag noch nicht abgeschlossen ist.
Der Grund dafür: Die Waren können erst dann in die Tourenplanung für den LKW aufgenommen werden, wenn die Lieferscheine vorhanden sind. Diese aber können systemseitig erst dann ausgedruckt werden, wenn der Fertigungs- und Verpackungsprozess tatsächlich beendet ist. Neben kurzfristigen informellen Abstimmungen setzt eine solche Umgehung der Vorgaben auch Abwägungen voraus: Ist der pünktliche Versand der Waren wirklich wichtig? Um welchen Kunden handelt es sich? Welche Konsequenzen hätte eine Verzögerung? In der Regel können Betroffene sehr genau erklären, warum Abweichungen zwischen ERP-Daten und konkreten Zuständen bestehen und warum diese nicht ohne Weiteres behoben werden können. Zumeist handelt es sich dabei um technische oder organisatorische Problemstellungen. Weit weniger häufig gründen die Abweichungen in Unkenntnis relevanter Systemzusammenhänge und daraus resultierendem falschen Umgang mit dem ERP-System. In jedem Fall erfordern jedoch aus Abweichungen resultierende fehlende und falsche Daten eine unmittelbare Reaktion der Beschäftigten.
Anforderungen an die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten
Beschäftigte müssen beim Umgang mit ERP-Systemen grundsätzlich aufgaben- und situationsbezogen handlungsfähig sein. Die inner- und überbetrieblichen Abläufe werden durch ERP-Systeme sehr weitgehend strukturiert, formalisiert und in ihrer Effizienz gesteigert. Dennoch müssen die Beschäftigten in der Lage sein, auch an den Grenzen des digitalen Systems und jenseits der formalen digitalen Strukturen verantwortlich zu handeln.
Dabei treten an vielen Arbeitsplätzen heterogene Anforderungen auf: Einerseits werden die Beschäftigten in ihren Tätigkeiten zunehmend an teilautomatisierte Vorgaben und Ablaufstrukturen gebunden; andererseits bewirkt der Einsatz von ERP-Systemen spezifische Herausforderungen und Unwägbarkeiten, die erst im Arbeitsprozess selbst zutage treten und situativ sowie zumeist informell bearbeitet werden müssen.
Zusammenfassend können die Arbeitsanforderungen an die Beschäftigten beim Einsatz von ERP-Systemen anhand folgender Dimensionen des „digital vernetzten Arbeitens“ beschrieben werden [3]:
- Informationen liegen in ERP-Systemen in digital abstrahierter und gefilterter Form vor. Die Beschäftigten müssen diese bewerten und mit der analogen Welt abgleichen.
- Aufgrund der Eigenlogik der ERP-Systeme ist es den Beschäftigten nur begrenzt möglich, diese im Arbeitsprozess zu kontrollieren und zu steuern. In ihren konkreten Tätigkeiten müssen die Beschäftigten digital vermittelte Perspektiven und Handlungslogiken permanent aufeinander beziehen und integrieren.
- Im Arbeitsprozess müssen die Beschäftigten fortlaufend zwischen isolierten und vernetzten sowie zwischen analogen und digitalen Tätigkeiten wechseln. Dieser Wechsel kann fluide sein oder abrupt stattfinden. Zudem macht es digital vernetztes Arbeiten erforderlich, gleichzeitige und ungleichzeitige Ereignisse in echtzeitbasierten Prozessen zu antizipieren und zu synchronisieren.
- Nicht nur die Entwickelnden von ERP-Systemen, sondern auch die Anwendenden benötigen ein „Denken in Prozessen“: Die eigene Bereichsperspektive muss zunehmend durch Wissen um bereichsfremde Anforderungen ergänzt werden. Nur so können die Beschäftigten den Realitätsgehalt der Systemdaten richtig einschätzen.
- Arbeit ist immer auf Interaktion, Kooperation und Kommunikation angewiesen. Die Beschäftigten müssen dafür geeignete Formen im digitalen Raum finden.
Sie lesen einen Auszug aus diesem Fachartikel. Der komplette Beitrag ist im E-Journal der ERP Information 2/2025 erhältlich:
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Literatur
[1] Bolte, Annegret/Judith Neumer: Erfahrungsbasiertes Kontextwissen bei digital vernetzter Arbeit, in: Martin Allespach/Bernd Käpplinger/Jana Wienberg (Hrsg.), Handbuch betriebliche Weiterbildung. Kritisch-emanzipatorische Ansätze in Theorie und Praxis, Frankfurt am Main: Bund-Verlag, 2025, S. 308–322.
[2] Bolte, Annegret/Judith Neumer: Grenzen der digitalen Technisierung – und wie Beschäftigte darauf reagieren (müssen), in: Annegret Bolte/Judith Neumer (Hrsg.), Lernen in der Arbeit. Erfahrungswissen und lernförderliche Arbeitsgestaltung bei wissensintensiven Berufen, Augsburg, München: Rainer Hampp Verlag, 2021, S. 85–102.
[3] Heinlein, Michael/Judith Neumer/Tobias Ritter: Digital vernetzte Arbeit: Dimensionen und Anforderungen einer neuen Arbeitsform, in: Michael Heinlein/Judith Neumer/Tobias Ritter (Hrsg.), Digital vernetzte Arbeit. Merkmale und Anforderungen eines neuen Typus von Arbeit, Wiesbaden: Springer VS, 2023, S. 29–71.
[4] Sauer, Stefan/Annegret Bolte: Erfahrungsbasiertes Kontextwissen: Der Blick aufs Ganze in der technischen Planung, in: Annegret Bolte/Judith Neumer (Hrsg.), Lernen in der Arbeit. Erfahrungswissen und lernförderliche Arbeitsgestaltung bei wissensintensiven Berufen, Augsburg, München: Rainer Hampp Verlag, 2021, S. 65–83.
[5] Böhle, Fritz: Arbeit als Subjektivierendes Handeln: Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkeiten und Ungewissheit, Wiesbaden: Springer VS, 2017.
[6] Hartmann, Elisa/Nicolas Schrode: Kontextwissen erfahrungsgeleitet erwerben, in: Annegret Bolte/Judith Neumer (Hrsg.), Lernen in der Arbeit. Erfahrungswissen und lernförderliche Arbeitsgestaltung bei wissensintensiven Berufen, Augsburg, München: Rainer Hampp Verlag, 2021, S. 135–153.
[7] Bolte, Annegret/Judith Neumer/Stephanie Porschen: Die alltägliche Last der Kooperation: Abstimmung als Arbeit und das Ende der Meeting-Euphorie, Berlin: Edition Sigma, 2008.
Dipl. Soz. Judith Neumer ist am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München e.V. (ISF München) tätig. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind erfahrungsgeleitete Arbeit, lernförderliche Arbeitsgestaltung, digital vernetzte Arbeit sowie Entscheidungen unter Unsicherheit.
Dipl. Soz. Judith Neumer
Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung
München e.V.
Jakob Klar-Straße 9, 81927 München
E-Mail: judith.neumer@isf-muenchen.de
Dr. Annegret Bolte ist am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München e.V. (ISF München) tätig. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Kooperation und Kommunikation in Unternehmen, erfahrungsgeleitete Arbeit, lernförderliche Arbeitsgestaltung sowie digital vernetzte Arbeit.