27. November 2024

Agile Organisation des ERP-Einführungsprojektes

Löst eine agile Organisation die Herausforderungen des Key Users im ERP-Einführungsprojekt?

Cite this article:

Friebel-Fohrholz, C.; Fiala, A.-K. (2024): Agile Organisation des ERP-Einführungsprojektes: Löst eine agile Organisation die Herausforderungen des Key Users im ERP-Einführungsprojekt? In: Eggert, S. (Hrsg.): Handbuch ERP-Markt 2024/2025. DPI-Verlag, S. 13–17

https://doi.org/10.58678/hb-erp-markt24_13-17

Kann eine agile Organisation die Herausforderungen des Key Users in ERP-Einführungsprojekten lösen? Klassische Projektansätze führen oft zu langen Laufzeiten und hoher Belastung der Key User durch Doppelbelastung und unklare Erwartungen. Agile Methoden bieten durch klare Rollen und Priorisierungen Entlastung. Jedoch erfordert der Erfolg organisatorische Voraussetzungen wie klare Rollenzuweisungen und eine offene Kommunikationskultur, aber ist das ausreichend, um langfristig den Key User in seiner Rolle zu unterstützen?

Wenn Sie sich ansehen, wie ERP-Systeme in mittelständischen Unternehmen eingeführt werden, stellen Sie schnell fest, dass das klassische Projektvorgehen (Wasserfallmodell) immer noch vorherrschend ist und sich ERP-Einführungen müßig langziehen. Im Mittelpunkt dieses komplexen Vorhabens steht der Key User, der Fachwissen einbringen, Anforderungen definieren, zwischen verschiedenen Abteilungen vermitteln und zugleich sein tägliches Kerngeschäft bewältigen soll. Doch unklare Verantwortlichkeiten, widersprüchliche Erwartungen aus der Linie und dem Projektteam sowie der Mangel an Zeit und Ressourcen gefährden schnell den Projekterfolg. Aus der Softwareentwicklung sowie aus der Implementierung von anderen unternehmerischen Anwendungssystemen wie z. B. dem CRM wissen wir, dass agile Systemeinführungen funktionieren und Unternehmen durch die agile Projektorganisation wesentlich schneller die Potenziale der neuen Systeme nutzen können. Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass ein agiles Vorgehen mehr Flexibilität, eine bessere (Team-)Kommunikation und eine schnellere Anpassungsfähigkeit an Veränderungen verspricht.
In diesem Fachbeitrag wird analysiert, ob und wie eine agile Organisation dazu beitragen kann, die Rolle des Key Users in einem ERP-Einführungsprojekt zu stärken und typische Konflikte zu entschärfen. Es werden konkrete Problemstellungen beleuchtet, praxisnahe Lösungsansätze diskutiert und Empfehlungen gegeben, wie Unternehmen ihre ERP-Projekte durch agiles Denken und Handeln erfolgreicher gestalten können.

Rolle des Key Users

Der ERP Key User ist die wichtigste Person in einem ERP-Projekt. Er ist Bindeglied, Übersetzer, Fachexperte, Tester, Trainer, Change Manager und Multiplikator. Je nach Projekt-Set-up (Bild 1) besteht die Möglichkeit, einen Key User oder auch ein Team aus mehreren Key Usern zusammenzustellen. In der Regel sind Key User sehr versierte und engagierte Mitarbeitende, die jedoch oftmals das erste Mal in einem IT-Projekt mitarbeiten. Oftmals werden sie ohne spezielles Wissen über ihre Aufgaben oder Verantwortlichkeiten von der Organisation für das Projekt ausgewählt. Das ist der Hauptgrund, weshalb es zu den im Folgenden beschriebenen Herausforderungen im Einführungsprojekt kommen kann.

Tagesgeschäft vs. Projektarbeit

Beginnen wir mit den Herausforderungen des Key Users im klassischen ERP-Einführungsprojekt. Im Projekt ist der Key User oftmals in Teilzeit tätig und muss gleichzeitig seine regulären Aufgaben im Tagesgeschäft bewältigen. Während der Projektlaufzeit hat der Key User zwei Vorgesetzte: den fachlichen Vorgesetzten sowie den Projektleitenden für die ERP-Einführung. Beide sind mit Personal- und Budgetverantwortung ausgestattet, aber unglücklicherweise haben beide konträre Zielvorgaben. Während der Linienvorgesetzte Umsatz- bzw. Kundenzufriedenheitsziele erreichen will, kümmert sich der ERP-Projektleitende um eine langfristig erfolgreiche Einführung. Key User vollziehen dann einen Balanceakt, da sie einerseits für ihre regulären Aufgaben im Tagesgeschäft verantwortlich sind, andererseits müssen sie ihre Expertise und Zeit für das ERP-Projekt mitbringen. Um diese Doppelbelastung langfristig durchzuhalten, bedarf es eines permanenten Abwägens von Prioritäten, einer akribischen Zeit- und Ressourcenplanung sowie einer transparenten Kommunikation mit allen Verantwortlichen – in den seltensten Fällen ist das im Einführungsprojekt Realität. Vielmehr sind überlastete Key User, nicht priorisierte Aufgaben sowie Verantwortliche, die über die Arbeitszeit des Key Users streiten, Realität in den Unternehmen. Kann ein agiles Projektvorgehen diesen Konflikt zugunsten des Key Users auflösen?

Agile Methoden wie Scrum und Kanban ermöglichen eine Priorisierung der Aufgaben, die iterativ umgesetzt werden. Das schafft für alle Verantwortlichen Transparenz, um zu erkennen, woran der Key User aktuell arbeitet und worauf der Fokus liegt. Dem Key User hilft es, seine Arbeit zu organisieren und zu strukturieren. Das Problem der Mehrbelastung und der zeitlichen Verfügbarkeit des Key Users wird dadurch allerdings nicht gelöst, denn in den meisten Unternehmen ist das Tagesgeschäft nicht agil organisiert. Die Priorisierung des Projektes sowie die Bereitstellung der benötigten Ressourcen sind Aufgaben, die durch Führungskräfte entsprechend sichergestellt werden müssen, um eine Entlastung für den Key User zu gewährleisten.

Handbuch ERP-Markt, Fohrholz/Fiala, Bild 1, Key User im klassischen Projekt

 Bild 1: Key User im klassischen Projekt.

 Bild 2: Key User im agil aufgesetzten Einführungsprojekt.

Unklare Erwartungen

Der Key User gerät immer wieder unter Druck, wenn die Erwartungen des Projektleitenden, Linienvorgesetzten und ggf. Geschäftsführung an die Aufgaben, Verantwortungsbereiche und Rolle des Key Users unterschiedlich, gegensätzlich oder gar unbekannt sind. Diese Diskrepanz in den Erwartungen führt häufig zu Frust und Überlastung. Ein Projektleitender hat in der Regel Budgetverantwortung und Entscheidungskompetenz. Die Erarbeitung und Diskussion von fachlichen Anforderungen fallen weniger in den Aufgabenbereich eines Projektleitenden. Diese Aufgabe wird somit von den Key Usern übernommen. Dadurch sind diese direkt dem Druck aus der Organisation ausgesetzt. Welche Alternative bietet ein agiles Vorgehen, um die Erwartungen an die Rolle des Key Users zu treffen?

Im agilen Projekt gibt es klare Verantwortlichkeiten (Bild 2). Der Product Owner ist verantwortlich für die Abstimmung, Produktanforderungen sowie die Priorisierung der Themen. Die Kommunikation mit Stakeholdern ist somit eine Kernaufgabe des Product Owners. Hier unterscheidet sich die agile Projektorganisation signifikant von klassischen Projekten. Der Key User wird dadurch weniger stark dem Druck ausgesetzt sein. Für die Einhaltung der Rollen ist der Scrum Master verantwortlich. Er unterstützt auch neutral und moderierend in Konfliktsituationen. Eine agile Projektorganisation kann somit für die Lösung dieses Konfliktes hilfreich sein, wenn die Verantwortungsbereiche den passenden Rollen zugewiesen sind und auf die Einhaltung geachtet wird. Ähnliches gilt für klassische Projekte: Durch eine klare Rollendefinition und Verteilung der Verantwortlichkeiten lassen sich unklare Erwartungen an die Rolle des Key Users vermeiden.

Unkenntnis über den Leistungsumfang

Je nachdem, wann der Key User zum Projektteam dazustößt, hat er Kenntnis darüber, welcher Leistungsumfang beim Anbieter eingekauft wurde. Die Projektrealität zeigt jedoch, dass in den wenigsten Fällen die Key User ab Projektstart (in diesem Fall also ab der ERP-Auswahl) involviert sind und wissen, welche Anforderungen und Ziele an den Anbieter übertragen wurden und welche Leistungsbestandteile der Vertrag umfasst. Wenn der eingekaufte Leistungsumfang nicht allen Projektmitgliedern klar ist, führt das schnell zu Missverständnissen und unrealistischen Erwartungshaltungen. Ein typisches Beispiel aus dem ERP-Projektalltag ist das Testen und/oder Schulungen. Key User sind im Projekt oft überrascht, in welchem Umfang selbst getestet werden muss und dass sie selbst für die Schulung der Mitarbeitenden verantwortlich sind. Fehlende (aufgrund nicht beauftragter Leistungen) Unterstützung des Dienstleistenden führt an dieser Stelle zu Frustration. Ist das agile Vorgehen eine Lösung für diese Herausforderung?

Auch wenn agile Projektorganisationen eine klare Beschreibung der Rollen haben, ist dadurch nicht geklärt, welche konkreten Projektarbeiten vom Dienstleistenden übernommen werden. Die konkrete Auftragsklärung sowie Kommunikation von Vertragsinhalten ist weiterhin Aufgabe der Organisation. Die Integration dieser Informationen in die Rollenbeschreibung kann Missverständnisse vermeiden und die Erwartungen realistisch halten.

Organisatorische Voraussetzungen

Ein agiles Projektvorgehen kann den Key User bei seinen Aufgaben und Herausforderungen unterstützen, es erfordert jedoch einige organisatorische und persönliche Voraussetzungen, damit die agile Organisation mehr Stütze als Last für den Key User ist.

Rollenzuweisung: So trägt das Unternehmen zum Projekterfolg bei, indem es eine klare und eindeutige Rollenzuweisung für alle projektbezogenen und alle fachbereichsbezogenen Rollen gibt und das Aufgaben- und Verantwortungsfeld pro Rolle definiert und zu anderen Rollen klar abgegrenzt ist. Rollen-Canvas geben eine gesamtheitliche Übersicht, welche Rollen im Projekt sowie für andere Unternehmensbereiche benötigt werden und öffentlich einsehbare Jobbeschreibungen fördern das Rollenverständnis.

Projektpriorisierung: Einen sehr großen Beitrag leistet die Organisation, wenn die Priorität des ERP-Einführungsprojektes in Bezug zu anderen Projekten und dem Tagesgeschäft transparent gemacht wird. Eine Prioritätenmatrix hilft der Geschäftsführung und den Projektleitenden, eine gemeinsame Prioritäten-Projektreihenfolge zu erarbeiten.

Ressourcenmanagement: Linienvorgesetzte sollten entscheiden, die Ressourcen für das eigene Team umzuverteilen, damit Doppelbelastungen aufseiten des Key Users vermieden werden können. Im Idealfall gibt es hier ein extra für die Dauer des Einführungsprojektes eingerichtetes Budget, um zusätzliche zeitliche Ressourcen bzw. Fachpersonal einzukaufen oder einzustellen.

Schulungen und Tools: Ein einfacher und schneller Zugang zu Schulungen (agile oder fachliche Weiterbildungen) und die richtigen Tools zur Arbeitserleichterung führen ebenfalls dazu, dass die Herausforderungen des Key Users reduziert werden. Eine ehrlich gelebte Feed-back- und Fehlerkultur sowie eine transparente Kommunikation sind ebenfalls Voraussetzungen für ein Gelingen der Einführung.

Out-of-Scope: Um eine agile ERP-Einführung erfolgreich umzusetzen, muss im Projektteam ein Verständnis über die Prozesse und Abläufe im Unternehmen vorliegen. Die Priorisierung der Themen muss klar definiert sein und auch wenn es schwerfällt, manchmal müssen Themen konsequent aus einem Projekt ausgeschlossen oder in eine zweite Phase verschoben werden, um das Projekt nicht zu überfrachten und die Einhaltung der wesentlichen Ziele sicherzustellen.

Selbstorganisation: Um Fehlentwicklungen im Projekt zu vermeiden, müssen Entscheidungsträger aktiv eingebunden werden. Teams erhalten in der agilen Arbeitsweise viel Freiraum und übernehmen die Koordination und Abstimmung ihrer Aufgaben selbst. Innerhalb des Rahmens aus Budget, Zeitvorgabe und Prioritäten ist es ihnen überlassen, wie sie die Ziele erreichen. Scheitern ist dabei ausdrücklich erlaubt und innerhalb der kurzen Zyklen auch für das Projekt verkraftbar. Das Team ist gefordert, aus den gesetzten Rahmenbedingungen das Beste herauszuholen. Voraussetzung hierfür ist Vertrauen durch die Entscheidungsträger. Sind diese Rahmenbedingungen gegeben und gibt es Austauschwege zwischen Team und Stakeholdern, ist eine klassische Rolle wie eine Projektleitung daher nicht oder nur in begrenztem Umfang nötig.

Persönliche Voraussetzungen

Doch auch der Key User selbst kann zu einem Gelingen beitragen, indem er sich aktiv an den regelmäßig stattfindenden Meetings beteiligt und ein Verständnis der agilen Methoden und Prinzipien entwickelt, ein agiles Mindset aufbaut und sich diese Fähigkeiten für das Projekt und seine Rolle zunutze macht. Zudem sollte der Key User die Fähigkeit besitzen, seine eigene Zeitplanung effektiv zu organisieren und priorisieren zu können und bei Bedarf rechtzeitig Unterstützung anzufordern. Ein permanenter Austausch mit dem Projektteam und dem fachlichen Vorgesetzten schafft Transparenz über das Aufgabenspektrum und -volumen. Der Key User fährt am besten, wenn er sich aktiv darum bemüht, die Erwartungen, die andere an seine Rolle stellen, immer wieder einzufordern und wenn er in einen offenen Austausch über Aufgabenprioritäten und Entscheidungsverantwortlichkeiten geht.

Fazit

Eine agile Organisation kann viele der typischen Konflikte, denen Key User in ERP-Projekten begegnen, abmildern. Insbesondere durch eine bessere Priorisierung, klare Kommunikation und die kontinuierliche Anpassung an die Unternehmensbedarfe und Verfügbarkeiten der Mitarbeitenden. Der Erfolg hängt jedoch stark davon ab, wie Agilität im Unternehmen verankert ist und wie gut die verschiedenen Stakeholder zusammenarbeiten. Nur wenn die organisatorischen und persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann eine agile Organisation den Key User effektiv unterstützen und so zum Projekterfolg beitragen.

Dipl.-Kffr. Corinna Friebel-Fohrholz ist Inhaberin und Geschäftsführerin der Glasholz GmbH. Sie hilft mittelständischen Unternehmen bei der Softwareauswahl und -einführung sowie Erstellung der passenden IT-Strategie. Umfassende Kenntnisse bringt sie über den Softwaremarkt (insb. ERP, CRM, DMS, MES) für diverse Branchen mit.

Anne-Kathrin Fiala, Glasholz GmbH

M. Sc. Anne-Kathrin Fiala ist Change Managerin und Business & Team Coach bei der Glasholz GmbH. Sie begleitet internationale Unternehmen auf ihrem Weg der digitalen Transformation. Unabhängig davon, welche neue Technologie (z. B. CRM- oder ERP-System) eingeführt werden soll, legt sie ihren Fokus auf die Menschen, die diese Technologie später in ihrem Arbeitsalltag nutzen.

Kontakt

Corinna Friebel-Fohrholz
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E-Mail: c.fohrholz@glasholz.de